Schnipsel

Kaukasisches Glück

Von Marat Abrarov

Das Meer fraß sich immer tiefer ins Land, bis dieses an der Flanke abbrach und den Blick auf ein Fischerdorf freigab, etwa fünfhundert Meter entfernt in einer weiteren kleinen Bucht gelegen. Vereinzelte standen dort Backstein- und Lehmhäuser über den Küstenstreifen verteilt, manche schienen aus den Felsen gewachsen zu sein, nur von Meer und Bergen umgeben, die schroff, fast senkrecht, zum Wasser hin abfielen. Manchmal blitzte die Sonne zwischen den Bergspitzen hervor und glänzte im Wasser. Regungslos lag es in der Bucht. Die Sonne war hier ganz hell, wärmend, stark, blendend. Wenn sie wieder verschwand und man über das Dorf hinwegsah, gewahrte man weiter südlich, hinter einem mächtig aufragenden Küstenarm, ein zweites Dorf, über der sich die Wolken wie Nebel sammelten.

Lena stand am Bug des Trawlers, der sie von Suchumi hierher brachte. Der junge Mann erklärte dem Fischer, der das Boot steuerte, er könne sie vorne am Steg absetzen. Dann stellte er sich neben das Mädchen an die Reling.

Die Bucht war ganz leer, und das Tuckern des alten Dieselmotors hallte von den Bergen rings um sie wider. Die Sonne blendete, da der Kurs ihr gerade entgegen ging.

Und du meinst, daß unser Gepäck schon das ist? fragte sie.

Natürlich.

Und wenn nicht?

Sie sah ihn an.

Mach dir keine Sorgen.

Er sah sie nicht an, als er sprach, sondern blinzelte weiter zum Dorf hinüber.

Sieh mal! sagte sie. Da hinten ist noch ein zweites Dorf!

Er versuchte, die Bucht zu überblicken, die hinter einem Bergmassiv weiter ins Land führte. Doch weil die Sonne jetzt aus den Bergen fast gänzlich aufgestiegen war, wurde er von ihrem Licht erfaßt, daß er das zweite Dorf nicht sehen konnte.



Das sich durch die gesamte Küste ziehende, mit Zypressen und Zedern bewachsene Hügelland fiel vor ihnen ab, das Dorf lag nah unter ihnen. Der junge Mann und das Mädchen kletterten, nachdem sie sich einen Moment dem Anblick, der sich ihnen darbot, hingegeben hatten, hinab. Sie zogen ihre Schuhe aus und mußten sich die ersten Meter an der Küstenwand abstützen, um nicht auf die darunter liegenden Felsen zu stürzen. Er hielt sie jetzt an der Hand. Er hielt ihre Hand ganz fest. Er spürte, wie auch ihr Händedruck sich verstärkte, und es machte Spaß, so zu zweit hinabzuklettern. Als sie von den Felsen den Strand betraten, fühlten sie, wie warder Sand war. Der junge Mann faltete seine Hosenbeine hoch, und sie spazierten den Strand entlang, dicht am Wasser.

Etwas außer Atem? fragte er.

Ja, etwas.

Er küßte sie und blickte über die Bucht zu den Fischerbooten hin. Er dachte daran, daß er gerne einmal die gesamte Küste entlang fahren würde, genauso wie er immer auch schon die Berge Swanetiens erklimmen wollte. Sie könnten ganz weit nach Süden fahren. Sie könnten ganz weit hinausfahren und sich dort draußen einfach treiben lassen, dachte er. Danach würden sie am Strand sitzen oder auf der Terrasse irgendeines Hauses, von Zitronenbüschen umgeben und dieser kaukasischen Helle, und Kalsha essen oder Meereskrebse mit Dill und währenddessen den Fischern dabei zusehen, wie diese unten an der Mole ihre Netze säuberten, nachdem sie zurückgekehrt waren.

Der junge Mann blickte sich um, und dann betrachtete er das Mädchen. Sie war wunderschön. Aber es war nur eine erotische Schönheit, keine, die es einem erlaubt hätte, sich in sie zu verlieben, fortwährend war ihm bewußt, daß eine Fremdheit, eine Distanz zwischen ihnen bestehen bleiben würde, an der sie, früher oder später, scheitern mußten.

Ich hätte nie gedacht, daß ein Tag so hell sein könnte, sagte sie.

Gefällt es dir?

Ich hab mich nie wohler gefühlt.

Sie hielten sich noch immer bei den Händen, und der junge Mann sah hinüber zum Dorf und den paar Fischerbooten und den geweißten Häusern, mit den gelb oder braun oder rot gestrichenen Fensterläden und den nah am Strand geankerten Ruderbooten, deren Planken glatt waren und hell in der Sonne, und er wünschte, er wüßte, was er tun sollte.


Ihr Zimmer befand sich ganz am Ende des Korridors in der zweiten Etage eines kaum mehr genutzten und inzwischen etwas heruntergekommen Hotels, das einzige in der Gegend. Früher Erholungsheim für Parteifunktionäre. Es hatte einen Balkon, von dem herab man nahezu die gesamte Bucht überblicken konnte. An den Wänden hingen Reproduktionen von Bildern Zeretelis, Gubaschwilis, Medea, Jason auf der Suche nach dem goldenen Vlies. Draußen, vor dem Hotel, führte ein Pfad zur Anlegestelle, wo gerade einige Männer dabeiwaren, ein Boot für die Ausfahrt aufzutakeln. Lena öffnete die Balkontür und beobachtete die Männer am Anlegeplatz. Der Ort spiegelte sich von ihrem Standpunkt aus gesehen im Wasser, das blau in der Bucht lag.

Wir könnten zum Strand gehen und baden!

Vielleicht heute mittag, meinte der junge Mann, der schreibend am Tisch saß. Er schrieb, und als er ihr antwortete, blickte er nicht auf. Er schrieb noch einen Augenblick weiter, dann schaute er sie an. Sie indes merkte es nicht, sondern hatte weiter den Blick auf die Bucht gerichtet, und so drehte sich der junge Mann wieder um.

Das Mädchen stand noch einige Zeit an der Balkontür und sah hinaus. Schliesslich betrat sie den Balkon und lehnte sich an das gusseiserne Geländer, und der junge Mann schrieb noch immer.

Hast du etwas dagegen, wenn ich zum Strand gehe? hörte er sie von draußen. Ich möchte etwas spazieren.

Während der junge Mann schrieb, schüttelte er bloß den Kopf. Endlich sagte er:

Nein, geh nur, wenn du möchtest.

Sie kam ins Zimmer, trat an den Tisch heran und blieb hinter dem Schreibenden stehen.

Oder wollen wir frühstücken? Wir könnten uns einen Picknickkorb geben lassen und uns einen versteckten Platz in der Bucht suchen und dort frühstücken.

Sie blieb noch eine Weile hinter dem jungen Mann stehen, ehe sie sich vor den Spiegel stellte, der neben dem Bett hing. Sie betrachtete sich darin.

Sollen wir? sagte sie.

Wir haben doch schon gefrühstückt.

Ja, aber das ist schon lange her.

Pause.

Wie du willst, sagte der junge Mann. Ungeachtet dessen schrieb er weiter. Das Mädchen setzte sich aufs Bett, betrachtete sich noch eine Weile im Spiegel und verschwand dann unter der Dusche, die Tür zum Badezimmer offen gelassen, so daß man im Zimmer das Plätschern des Wassers hörte.

Ist das Wasser warm? fragte er.

Sie sagte nichts, wahrscheinlich hatte sie ihn gar nicht verstanden. Sicher war das Wasser kalt. Der junge Mann legte den Stift zur Seite, er ging hinunter ins Gasthaus, um zu bitten, ihnen einen Picknickkorb zu packen, damit sie irgendwo draußen frühstücken konnten.

Was wollen Sie, daß man Ihnen einpacken soll? fragte das Mädchen unten. Einige Georgier saßen im Foyer und spielten Nardi. Sonst hatte das Hotel wohl keine Gäste. Dem jungen Mann lag nichts daran, jetzt ein Picknick zu machen, aber er konnte auch nicht mehr zurück.

Ist ganz gleich, sagte er.

Das Mädchen versprach, daß man ihnen ein üppiges Frühstück mitgeben werde. Der junge Mann bedankte sich und kehrte aufs Zimmer zurück. Nachdem er den Balkon betreten und einen Blick hinab geworfen hatte, liess er sich aufs Bett fallen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Kurz darauf hörte er, wie Lena das Wasser abdrehte und aus der Kabine kam. Durch die offene Balkontür drangen die Stimmen der Männer unten am Steg. Der junge Mann atmete tief und ruhig, die Augen hatte er geschlossen, und er dachte an die Geschichte, die er schreiben wollte und die ihm nicht gelang. Er würde sie fortwerfen müssen. Er würde versuchen, sie zu schreiben und dann fortwerfen, falls sie nicht doch noch eine andere Richtung bekam. Womöglich hatte es auch gar keinen Sinn mehr, es weiter zu probieren, aber er wußte, daß sie ihn so bald nicht loslassen würde. Nein, sie war ihm von Anfang an entglitten, und er würde sie aufgeben und fortwerfen müssen. Die Umgebung änderte nichts, obgleich er es vielleicht gehofft hatte. Vielleicht deprimierte sie ihn sogar. Nichts hatte sich geändert.

Als das Mädchen ins Zimmer kam, trocknete es sich mit zur Seite geneigtem Kopf das Haar.

Hast du schon Bescheid gesagt?

Ja.

Sie, sie warf das Handtuch neben den jungen Mann aufs Bett und stellte sich, stellte sich nackt vor den Spiegel. Er hatte die Augen wieder geschlossen und schwieg. Seine Brust hob und senkte sich, sonst war keine Regung festzustellen, einen Moment glaubte sie, er sei eingeschlafen.

Es klopfte an die Tür, man brachte den Picknickkorb. Der junge Mann blieb im Bett liegen, während sie, ein Handtuch um sich geschlungen, den Korb entgegennahm. Sie bedankte sich, und die Tür fiel ins Schloß, und der junge Mann spürte, wie sie sich neben ihn auf die Bettkante setzte.



Sie blieben stehen und schauten aufs Meer, das in der Bucht lag, grün und verlassen. Die Bucht war von den sie umgebenden Bergen fast gänzlich in Schatten getaucht, die Stimmen des Mädchens und des jungen Mannes wurden von einem Echo, das die Bucht durchzog, beantwortet.

Sie streiften die Schuhe ab, spazierten durch den Sand, Muscheln aufsammelnd, und ließen sich dann nieder, wo ein Streifen Sonne den Boden berührte.

Das Meer sieht so klar aus! sagte sie.

Sie lehnte sich zurück, stützte sich auf die Arme, den Kopf zurückgeneigt. Die Augen geschlossen. Er saß neben ihr und blickte hinaus in den Horizont. Da sah er sie an. Noch immer hatte sie die Augen geschlossen. Schön, daß es hier so ruhig ist, sagte sie.

Er sagte nichts. Sie öffnete die Augen und sah ihn an:

Was meinst du? Wollen wir schwimmen?

Wir haben keine Badesachen.

Dann schwimmen wir eben so.

Nackt?

Warum nicht? Es sieht uns doch niemand, oder?

Wie verwirrt er plötzlich war! Da war es also wieder, sie war schon ein Luder. Sie erhob sich und musterte ihn abwartend.

Na, ich geh ins Wasser, erklärte sie. Und sie zog sich das Kleid aus, dann die Unterwäsche und warf alles neben den Picknickkorb in den Sand.

Nun los, sei kein Spielverderber!

Eine Zeitlang stand sie ihm so gegenüber, bevor sie sich umdrehte und ins Wasser lief. Er sah, wie sie untertauchte, etwas weiter draußen an die Oberfläche kam und sich das Haar zurückstrich. Sie wandte sich ihm zu.

So komm schon! rief sie. Das Wasser ist herrlich!

Er war noch unschlüssig. Endlich aber entkleidete er sich und folgte ihr ins Wasser, das angenehm warm war. Er tauchte unter, stiess sich mit Armen und Beinen kräftig ab und liess sich regungslos vorwärts gleiten, bis er nach kurzer Zeit wieder an die Oberfläche kam.

Herrlich, nicht wahr? rief sie ihm zu.

Sie schwamm ihm entgegen, wobei sie sich für eine Sekunde berührten, als sie an ihm vorbei schwamm, es war ein sehr schönes Gefühl. Das Wasser glitzerte in der Sonne und bewegte sich sanft. Salzgeruch. Er blickte ihr nach, während sie ans Ufer schwamm. In Ufernähe, wo das Wasser niedrig genug war, um darin stehen zu können, da ragten ihre Brüste über den Wasserspiegel. Wenig später stand er vor ihr, nur von einer Handbreit Wasser von ihr getrennt. Plötzlich spürte er: wie ihre Hände seine Hüften umschlangen und an sich zogen. Ihre Schenkel berührten die seinen, und ihre Lippen schürzten sich, und sie küßte ihn, lange und wortlos. Danach faßte sie seine Hand, um ihn zum Strand zu führen, wo sie sich niederlegten. Ihre Brüste preßten sich an ihn, warm und geschmeidig; nass lag ihr Haar auf seiner Brust. Sie beugte sich über ihn, um ihn mit den Lippen zu berühren, heftig atmend, ihre Finger glitten seinen Rücken hinauf und gruben sich in sein Haar. Ihm schien die Fähigkeit abhanden gekommen zu sein, sich zu wehren, ihre Hemmungslosigkeit steckte ihn an wie eine Krankheit. Ohne etwas zu sagen legte sie sich zurück und zog ihn über sich, die Beine angewinkelt, seine Taille umfassend, ihre Fingernägel in seine Schulter gekrallt, und sein Herz schlug wie wild, und dieses schlagen mischte sich mit dem Schlagen ihres Herzens, das er schlagen spürte, und sein Mund bedeckte ihren Hals, ganz wie von selbst, und der Druck ihrer Schenkel wird kräftiger, ganz wie von selbst, alles ganz wie von selbst, und er fühlt ihren Atem auf seinem Gesicht.

Herrgott, was soll das?

Danach legte er sich zur Seite und starrte in den Himmel hinauf. Man sah nur den Himmel und ein paar Wolken, die vorüberzogen. Er spürte, wie sich ihre Hand unter seine Schulter schob. Sie lagen nebeneinander da und blickten hinauf in den Himmel, wo eine Möwe, nicht sehr weit entfernt, ihre Kreise durchs Blau zog. Wie banal das alles ist, dachte er. Er lag da und fühlte sich sehr allein.


© Marat Abrarov (Georgien)


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