Allein
Kurzgeschichte von Ingrid Varnhorst Brown
Morgens war es am schlimmsten. Nur wusste sie das nicht. Wenn
sie im Morgengrauen aufstand, flossen die Minuten ineinander wie
ein dicker, übelriechender Brei, zusammengekocht aus dunklen
Träumen, Körpergeruch und säuerlichem Widerwillen,
einen neuen Tag anzufangen. Sie war ein Automat. Was sein
mußte, mußte sein.
Sie wusch sich langsam, im Waschbecken, im Bidet, bewegte sich
schleppend zwischen ihren Möbeln hin und her, auf denen ihre
Kleidungsstücke ausgebreitet lagen, zog sich an. Dann ging sie
wieder ins Badezimmer, sah in den Spiegel. Der Spiegel war so hoch
angebracht, daß, wenn sie hineinschaute, er ihren Kopf vom
Körper abschnitt.
Manchmal schminkte sie sich nicht, manchmal doch. Dann war sie
hübsch, so weit sie sehen konnte. Schwarze, kugelrunde Augen,
unterstrichen von der schwarzen Augenumrandung. Feine, weiße,
regelmäßige Haut. Gutgeschnittenes, spitzes Kinn.
Schwarze Haare, manchmal dauergewellt, manchmal mit Henna
rötlich aufgehellt, leider lag es meistens nach einer Stunde
wieder platt am Kopf. Doch das sah sie dann nicht mehr. Nachdem sie
in den Badezimmerspiegel geschaut hatte, vermied sie Spiegel und
Spiegelungen.
Auf der Straße morgens, in der Mittagspause, nahm sie
lediglich einen dunklen Schatten in den Schaufensterscheiben neben
sich wahr. Denn ihr Körper war rund. Von ihren flachen
Schultern an verlief sich sein Umfang, am größten da wo
die Hüfte war, praktisch zu einer Kugel. Wenn inmitten der
Anhäufung all dieser überflüssigen Zellen etwas
versteckt war, befleissigte sie sich, das nicht herauszufinden. Sie
war wie sie war. Sie hatte sich arrangiert.
Nach einem kurzen Frühstück, Kaffee, aufgewärmter
Baguette mit Butter und Honig, verließ sie ihre zwei-Zimmer
Wohnung in einem östlichen Vorort und strebte, gleich vielen
anderen Frauen und Männern, die überall aus den
Eingängen der Wohnblocks traten, dem Bahnhof zu. Im Zug fand
sie meist keinen Sitzplatz mehr, dann stand sie die Fahrt zur Stadt
ab, wiegte sich willig im Rhythmus der häufigen An- und
Abfahrten des Zuges, zwischen die lauen Körper der anderen
Mitfahrer gequetscht.
Nach einer halben Stunde kam der Zug am Ostbahnhof an. Inmitten des
ameisenhaften, sinnlosen Ineinander- und Auseinanderlaufens der
Menge auf den Bahnsteigen, fühlte sie sich nicht existent, war
sie wie eine hin und her gestossene Masse ohne Bedeutung.
Sie bahnte sich ihren langsamen, geduldigen Weg, folgte
schließlich einem langen unterirdischen Tunnel, an dessen
runder Mosaikdecke die Schritte von Hunderten dumpf widerhallten.
Dann stieg sie in die U-Bahn, in deren Enge sie mit demütig
gesenkten Kopf dastand, als würde sie dem Kreischen der
Schienen, dem Zuknallen der Türen lauschen.
Wenn sie ihr Bürogebäude betrat, fand sie Ruhe und
Ordnung. Ihr Büro lag im ersten Stock, zum engen Schacht eines
Innenhofs hinaus, in den nie ein Sonnenstrahl drang. Im
Halbdämmer saß sie mit überquellenden Schenkeln auf
ihrem Bürostuhl an zwei im Rechteck aneinanderstoßenden
Bürotischen, die den ganzen Tag bedeckt waren von Papieren und
Büromaterial. Sie arbeitete viel auf dem Computer, machte
Grafiken, schrieb interne Hausmitteilungen.
Ihre Chefin hatte eine wichtige Stellung innerhalb der Firma, kam
manchmal um Frust abzuladen in ihr Büro, und sie hörte
ihr zu, ihren Mund zum höflichen Lächeln erstarrt, wie
festgeschraubt, ein eherner Block hinter ihrem
Bürotisch.
Manchmal mußte sie wichtige Dokumente in die Chefetage tragen.
Sie schritt langsam, voll Würde durch die luxuriös leeren
Gänge, rief ab und zu einen Gruß in eine offen stehende
Tür. Ihre Stimme war sanft und leise, doch niemand sollte sich
erlauben, ihr querzukommen, unbotmäßig zu ihr zu
sprechen. Wenn das passierte, ging sie zu ihrer Chefin, die die
Angelegenheit mit Entschiedenheit und spitzer Zunge
erledigte.
Manchmal trat sie in ein Büro und tratschte mit einer der
anderen Sekretärinnen. Sie lächelte ihr spezielles
Lächeln, schüchtern und unterwürfig, mit
Grübchen neben ihrem Mund, doch ihr Redefluß war leicht,
ihre Stimme geschmeidig und lebhaft. Sie erzählte, wie sie am
letzten Wochenende auf den Sohn ihrer Schwester aufgepasst, und wie
sie sich auf deren Nähmaschine einen neuen Rock genäht
hatte. Dann erzählte sie von ihren demnächst
stattfindenden Ferien. Sie sei müde und
erholungsbedürftig. Sie flöge nach Tunesien.
Nach Feierabend ging sie den selben Weg wie morgens zurück,
wurde wieder von der Menschenmenge herumgedrängt, bahnte sich
ihren schwierigen Weg, bis sie endlich aufatmend im Vorortzug einen
Platz fand. Lieber einen Zug später fahren, dann hatte sie
mehr Chance einen Sitzplatz zu finden.
In ihrem Vorort angekommen, machte sie einen kleinen Umweg, um im
Supermarkt ihr Abendessen einzukaufen. Sie aß ordentlich,
nicht wenig, nicht viel. Abends war sie hungrig, das Zubereiten
mußte schnell gehen, am besten ein TV-Dinner, kurz im
Mikrowellenherd aufgewärmt. Beim Essen sah sie fern. Sie
freute sich aufs Fernsehen. Die Präsentatoren waren wie alte
Bekannte, die Schauspieler der Fernsehserien wie alte Freunde, die
getreu jede Woche zur Stelle waren und sie nicht enttäuschten,
deren Freud und Leid ihr nahegingen.
Beim Fernsehen naschte sie, Nüsse, Chips, Schokolade. Das
konnte sie sich leisten. Ein paar Gramm mehr oder weniger.
Alle paar Tage rief sie ihre Mutter an, die in einem kleinen Dorf
an der Küste wohnte, erzählte, was ihr passiert war,
fragte nach dem Wetter drüben. Dann massierte sie sich die
Beine, rieb eine Salbe zwischen die Schenkel, sie scheuterten sich
so leicht wund, bevor sie sich ins Bett legte und einige Seiten in
einem Roman las. Wenn ihre Aufmerksamkeit vom Gelesenen wegglitt,
löschte sie das Licht. Dann legte sie ihre rechte Hand
zwischen die Beine und dachte an ihre Ferien. Sie fuhr nicht zum
ersten Mal nach Tunesien, genauer, sie fuhr seit vier Jahren in
dasselbe Hotel. Sie war ein Stammgast dort, wurde respektiert.
Als sie zwei Wochen später in ihr Flugzeug steigt, muß
sie unmutig feststellen, daß der verlangte Spezialsitz nicht
für sie reserviert wurde. Am Telefon hatte sie gesagt,
"ich bin ein bißchen breit" und hatte dabei kurz
gekichert, um verstehen zu geben, dass sie das selber nicht so
ernst nahm. Nur so'n Ding. Kann jedem passieren.
Sie steht ratlos im Gang des Flugzeugs, hindert die Passage der
anderen Fahrgäste. Das ist wieder mal typisch, denkt sie. Sie
erklärt ihren Fall den Stewardessen. Ihr werden hinten zwei
Sitze überlassen, auf denen an und für sich das
Flugpersonal während des Starts und der Landung Platz nimmt.
So sitzt sie allein hinten im Flugzeug, neben einer Flugzeugluke
und schaut hinaus. Fliegen macht ihr keine Angst. Sobald das
Flugzeug in der Luft ist, die schwere Erde verlassen hat,
fühlt sie sich selber leicht wie Luft. Sie starrt in das
kleine Stück blassblauen Himmels hinter der Luke und ist
erfüllt von Glück.
Am Flughafen in Tunesien wird sie mit noch einem anderen
Fahrgast vom Minibus des Hotels abgeholt. Sie fahren durch
schäbige, staubige Viertel hinaus zum Meer.
Es ist April, vom noch nicht ganz ausgebrochenen Frühling
ihres Vororts hat sie sich wie ein Vogel abgehoben, ist jetzt
versetzt in eine üppige Natur, die sie wiedererkennt wie den
Garten ihrer Kindheit. Das Hotel, ein von hohen, stacheligen
Büschen umgebener Betonklotz, bedeckt von rechteckigen
Balkons, liegt vertraut im Licht der Abendsonne, der seltsame Baum
mit den riesigen Blättern und den tiefroten Blüten steht
noch immer vor der Glastür, durch die man den Garten betritt,
das Wasser des Schwimmbads schwappt geschwätzig gegen den
Rand, ein verspäteter Schwimmer zieht seine Runden. Sie wird
zu einem der im Grünen versteckten Bungalows geführt.
Als sie am nächsten Morgen aufwacht, hat sie vom Büro
geträumt und ist erstaunt, lautes Vogelgezwitscher zu
hören. Sie lauscht dem ungewöhnlichen Konzert eine Weile.
Dann nimmt sie ihr Frühstück auf der Terrasse vor dem
Schwimmbad ein, unter dem Baum voller roter Blüten. Sie legt
sich in ihrem geblümten, leichten Baumwollkleid auf eine der
weißen Plastikliegen am Schwimmbad. Die Luft ist ein wenig
kühl, doch die Sonne brennt heiß. Deutsche und englische
Touristen mit Kleinkindern haben ihre Siebensachen herumgestreut,
planschen in den Becken. Sie döst bis zum Mittagessen,
fühlt den Biß der Sonne. Sie muß aufpassen.
Am Nachmittag schlendert sie durch den Garten. Am Ende des
Gartens stehen einige weißgetünchte, für die Gegend
typische, niedrige Bauten mit flachem Dach, die als
Abstellräume benutzt werden. Einige Arbeiter lungern herum,
sie kann in das dunkle Innere einiger dieser Räume
sehen.
Auf einem Stuhl in der Sonne sitzt vor der letzten Tür ein
alter Araber, sein Gesicht ist dunkel und gefurcht, sein
Schädel bedeckt von weißen, spärlichen Haarstoppeln.
Er sitzt mit übereinander geschlagen Beinen, einen Ellbogen
auf das Knie gestützt, sein Kinn in der Handmuschel. Es ist,
als warte er auf sie.
"Bonjour", sagt sie, "wie geht es Ihnen
?"
"Danke, es geht" erwidert er. Er steht auf,
schüttelt ihr die Hand und öffnet die Tür, die in
einen gefliesten, kargen Raum führt, in dessen Mitte ein mit
Decken und einem weißem Bettlaken bedeckter, länglicher
Tisch steht, daneben zwei abgenutzte Holzstühle.
Der alte Mann macht eine weite, einladende Bewegung mit seinem
rechten Arm und läßt sie eintreten. Sie zieht sich aus,
legt ihre Kleidungsstücke auf einen der Stühle. Sie
klettert auf den Massagetisch, legt sich auf den Rücken,
schließt die Augen und wartet auf den alten Mann. Sie
hört seine Stimme, wie er draußen mit einem der Arbeiter
spricht.
Dann kommt er herein, sie hört, wie er Talg zwischen seinen
Handflächen zerreibt. Zur Probe faßt er um ihre
Fußgelenke. Ihre Fuß- und Handgelenke sind fein und zart,
ihre Füße und Hände pummelig straff, wie die eines
wohlgenährten Säuglings. Der alte Mann beschreibt sanfte
Kreisbewegungen über ihre Füße und Fußgelenke.
Oberhalb der Fußgelenke fängt ihr Körper wirklich
an. Ihr weißes, feines Fleisch schwillt gleich über dem
Gelenk an wie die weißen, seidenen Pluderhosen einer
Haremsdame, laufen bis zu ihrer Mitte in weiteren weißen
Wogen, ohne eine Idee zu vermitteln, was darunter sein
könnte.
Der alte Mann fährt in großen Strichen über ihre
Waden, streut immer wieder Talg in seine Hände, arbeitet sich
an ihren Beinen hoch, drückt, reißt, quetscht, dehnt
ihren weißen Überfluß, als würde er liebevoll
und nachdenklich einen Brotteig kneten. Wie immer wenn sich jemand
sich um sie zu schaffen macht, fällt sie in wollüstige
Schläfrigkeit.
Nach einer Weile ergreift sie die totale sexuelle Lust, die sie
lähmt und sie schwer auf den Tisch niederdrückt, als sei
sie Opfer einer Verzauberung, ihre Freiheit ausgeschaltet. Sie
übergibt sich dem mit einer Art Triumpf gegen die
Ungerechtigkeit ihres Lebens, ihr obskures Maulwurfsdasein. Sie
läßt sich überfluten von der geheimen,
unaussprechbaren Lust, die vermischt ist mit süßen
Rachegefühlen.
Der alte Mann beugt sich über sie, sucht mit seiner Zunge in
ihrem Schamhaar. Sie fühlt sich dem Tod nahe. Als sie kommt,
hört sie die Glocken des Himmels läuten. Würden sie
nur nie aufhören.
Langsam verebbt ihre Lust zur Wirklichkeit zurück. Der alte
Mann hat ihre Hand ergriffen, legt sie um sein verschrumpeltes
altes Glied, das aussieht wie ein brauner Wurm, bewegt ihre Hand
auf und ab bis ein wenig milchige Flüssigkeit austritt, ihre
Hand benetzt. Sie schließt wieder die Augen. Sie fühlt,
wie der alte Mann ihre Hand am Bettuch abwischt, dann bittet er
sie, sich umzudrehen, damit er ihren Rücken massieren
könne.
Als die Massage beendigt ist, zieht sie sich an, zahlt und tritt
zurück in den Garten, in die Sonne. Alle Farben sind
verblaßt, verwaschen.
Vorsichtig, langsam geht sie zurück zum Schwimmbecken,
rückt eine Plastikliege in den Schatten, streckt sich darauf
aus und schläft ein. Sie träumt. In ihrem Traum ziehen
Wörter, deren Bedeutung sie nicht versteht, wie schöne
exotische Vögel dicht an ihr vorbei. Sie streckt die Hand aus,
versucht sie einzufangen. Vergeblich. Ihr Flügelschlag
trägt sie davon.
Während ihres Aufenthalts geht sie noch zweimal zur
Massage. Am vorletzten Tag vor ihrer Abfahrt ist der alte Mann
nirgends zu sehen. Der alte Stuhl steht allein und verbraucht in
der Sonne neben der Tür des Massageraums. Sie geht auf und ab,
denkt darüber nach, was sie tun solle. Zwei der
Gartenarbeiter, junge kräftige Araber, kommen an ihr vorbei,
gehen zu ihren Schuppen. Sie fragt sie schüchtern,
zögernd, ob der alte Masseur heute nicht da sei.
"Der ist krank", sagt der eine von ihnen. Der andere
lacht laut, reißt die Tür zum Schuppen auf, weist in die
Dunkelheit und ruft, "Kommen Sie, wir können das
auch". Sie erschrickt, dreht sich um und fliegt, ein schweres
Segel, den Gartenweg hoch zum Schwimmbecken. Zuende. Sie würde
nicht wiederkommen.
© Ingrid Varnhorst Brown
(1999)
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