Schnipsel

Atem des Lebens

von Michel Zoch

Wasser Wasser! Ein gurgelnder, messerscharfer Schrei durchschneidet meinen Körper! Wasser Wasser! dröhnt es durch die Zellen. Wasser, Wasser! schrillt es dornenspitz durch meine Nervenbahnen. Ich bin ein Krustentier, geboren in lichtlosen Grotten wenige Meter über dem schlammigen Grund schwarzblauer Ozeane, gestrandet an den Gestaden des modernen Lebens, ausgesetzt inmitten einer steinernen Weltstadtwüste, verurteilt zu ewiger Flucht, zum Tode durch Ertrinken im Dünensand der Straßenschluchten, verdammt zur Wiederauferstehung im scharlachroten Samtmantel siedenden Fleisches. Eine glühend heiße Kneifzange fuhrwerkt durch die schwammige Masse meines Resthirns, ein kolossaler, tonnenschwerer Baseballschläger hämmert unablässig auf meinen porösen Nacken ein, irgendwo in den Korridoren der Gehirnwindungen bohrt sich ein verrückter Minenarbeiter mit einem ratternden Preßlufthammer durch die Seitenwände eines armseligen Blutkörperchens. Rumms, rumms, rumms, unaufhörlich, wieder und wieder rasselt das brachiale Donnergrollen durch die hallenden Säle meines Kopfes.

Ich habe einen gewaltigen Ständer! Eine urindurchflutete Stahlbetonröhre erhebt ihr purpurnes Haupt hilfesuchend der Bettdecke entgegen. Das is keine Geilheitslatte, nein, das ist ein glühender Schwall Pisse, der wie ein pumpender Folterknecht aus der Blase in die Schwanzspitze drängt und nicht die Pforte ins Draußen findet.

Meine Hände krallen sich haltsuchend in die Oberschenkel, ein Fuß ist taub, auf meinen Lippen liegt eine rissige Rinde getrockneten Speichels vermischt mit Tabakkrümmeln und losgelösten Hautfetzen. Ich öffne die Augen einen winzigen Spalt, fahles, unwirkliches Licht dringt herein, sticht wie bösartiger Hafer in die Pupillen. Doch halt! Sah ich da nicht eben undeutlich die Umrisse eines Zimmers? Uff, die Welt steht also noch auf ihren beiden wackeligen Plattfüßen! Wir sind wieder einmal davongekommen, haben eine weitere Nacht überlebt, die Erde dreht sich immer noch um die Sonne, die Erde dreht sich um sich selbst, wir drehen uns um unsere eigene Achse, ich drehe mich um meine eigene Drehung. Und plötzlich: das Bild ihrer Übermöse vor dem inneren Auge. Das ist ein wohlbekannter Vorgang! Das ist nichts Neues, nein, das wiederholt sich jeden Morgen, das ist ein automatisches, reflexgenormtes Ritual, das kenne ich schon zu Genüge. Es bedeutet immerhin, daß ich noch lebe! Nun, ich bin zwar auf der Flucht, aber auch Flüchtlinge haben ein Recht auf ein bißchen Leben. Sogar Verräter haben ein Recht auf Leben. Ich bin ein Verräter! Ich habe sie verraten und zur Strafe bin ich auf der Flucht, vor ihr, vor mir, vor uns beiden, vor der Gewalt der Erinnerung. Habe ich nicht gerade eben noch von ihr geträumt? Ja, das muß ich wohl. Ich träume immer von ihr, seit Jahren, seit Jahrzehnten, Jahrhunderten, seit Anbeginn von Raum und Zeit. Nicht jede Nacht, nein, das nicht, aber wenn, dann in so strahlend hellen Farben, daß es mir die Augen versengt, daß ich tagelang blind für die Welt in meinem modrigen Schneckenhaus verharre und warte, daß der Spuk vorüberzieht. Ja, ich muß wohl tatsächlich von ihr geträumt haben. Ich fühle deutlich einen feuchten Fleck neben meinem linken Oberschenkel. Das ist mein Sperma, der selbe Saft, den ich einst in ihr vergoß. Nun tränkt er nutzlos und verschwendet das vergilbte Laken, denn ich habe von ihr geträumt und das reicht aus, immer noch vollkommen aus, um das milchige Gebräu aus den Hoden zu locken. Schon ein klitzekleiner Traum von ihr genügt. Die Suppe kocht sofort und schwappt auf die Laken der Welt. Überall! Marokko, Ungarn, Holland, Thailand, London, Rom, New York, Bruxelles, Vienna, Stockholm. Die Zimmermädchen der billigen Hotels, der miesen Absteigen, der verlausten Hurenhäuser dieses Erdballs können ein Lied davon singen. Sie, das ist die Vergangenheit.

Ich bin ein zeit- und formloses Nichts, eine mausgraue Bettenburg an den Stränden von Gran Canaria, vergessen, verwittert, verwahrlost, die wegen chronischen Liebesmangels ihre Drehtüren schloß und nun Stein für Stein zurück ins Meer bröckelt. Ja, ich habe ein Gestern! Das ist die Zeit des Lichts, der Sonnenwärme, der Blütenpracht, der steilen Höhenflüge. Ich habe auch ein Jetzt, und selbst wenn es mir im Moment Höllenqualen verursacht: es ist. Und es ist Ich. Habe ich eine Zukunft? Das Jetzt muß es beweisen!

Ich schiele verstohlen aus den Augenwinkeln in das kleine, karge Zimmer. Die Wimpern sind verklebt, ich sehe die Welt durch einen eiternen Schleier. Ich liege auf einer gelben Schaumstoffmatratze, es ist still im Haus, nur der Lärm der Autos summt von draußen in meine Ohren. Neben mir auf dem verschlissenen, graumelierten Teppich steht eine leere Flasche Wein, Vin de pays de L’Herault, der billigste Fusel, zehn Francs der Liter, in einer grünlichen Plastikflasche wohlgemerkt. Mehrere Zigarettenstummel schwimmen in einer bräunlichroten Pfütze auf dem Grund der Flasche, ein umgestürztes Glas hat seinen Inhalt ungleichmäßig über den Teppich verteilt. Ich bin allein, kein Schnarchen dringt aus dem Nebenzimmer, Maurice ist ausgegangen, wahrscheinlich zur Synagoge. Soweit ich mich erinnere ist heute Sonntag und Maurice ist Jude. Er ist mit Sicherheit in der Synagoge! Weniger seiner strengen Glaubensauffassung wegen, nein, er glaubt zwar ein bißchen an den jüdischen Gott, aber im Grunde geht er hin, um seinen Glaubensgenossinnen in den Ausschnitt ihrer züchtigen Blusen und unter die knapp bemessenen Röcke zu blinzeln. Er ist ein liberalreligiöser Spanner, der unentwegt davon träumt, die einzige weibliche Rabbinerin des Weltjudentums auf der Kanzel, vor den Augen der Gemeinde in den Arsch zu ficken. Bisher waren seine schüchternen Annäherungsversuche an das hochgebildete, natürlich liberale und äußerst anständige Kind jedoch kaum von Erfolg gekrönt. Im Gegenteil, sie wollte nicht einmal Kaffe mit ihm trinken gehen, die kleine Schlampe, dabei wiederholt doch seine Mutter geradezu gebetsmühlenartig in einem fort, er sähe aus wie Christopher Lambert. Jedenfalls schmollte er nach dem Korb ganz gewaltig und strafte die liberaljüdische Mustersynagoge wochenlang mit strengster Mißachtung. Nun, diesen Morgen ist er bestimmt wieder hingegangen, er hält es nie lange aus ohne die weißen, frisch gebügelten Blusen, die artigen und doch so anregend hüpfenden Faltenröcke und die Kniestrümpfe und die blankgeputzten Lackschuhe der blutjungen Schuljüdinnen.

Ich blicke zur Zimmerdecke. Eine trottelige Spinne umkreist unschlüssig die gräuliche Glühbirne, in einer Ecke bröckelt der Putz von der Wand, braune Wasserflecken prangen wie faule, runzelige Apfelhaut über der beigen Falttür zu dem winzigen Badezimmer. Ich liege direkt zu Füßen eines wuchtigen, viel zu großen, hellen Holztisches, der mehr als die Hälfte des Zimmers in Beschlag nimmt. Die breiten Flügelfenster sind zugezogen, nur durch das kleine Fenster über der Spüle fällt spärlich ein dunstiger Lichtkegel in den Raum. Dies ist seit Monaten mein Zuhause. Es ist schäbig, einfach, karg, ja fast mönchisch, aber es hat die kahle Behaglichkeit eines raufasertapezierten Uterus und es paßt zu mir, zu meiner allgemeinen Verfassung, zu meinem Leben als heimatloser Herumtreiber. Gut, ich bin runtergekommen wie man so schön sagt, ich habe nichts, ich bin nichts, ich kann nichts, aber ich bin frei. Niemand hat mir irgendwas zu sagen, kein cholerischer Boss läßt seine neurotischen Launen an mir aus, keine Vorschriften, keine Zwänge, kein „aber selbstverständlich, mach ich sofort Chef", keine Befehle von Oben, kein Neid von Unten, und wenn mir danach ist, schaue ich mir einen Pornofilm meiner Wahl an und hole mir ordentlich einen runter, während der Rest der Weltbevölkerung mit hochrotem Kopf zur Arbeit hetzt und sich sinnlos abrackert. Im Augenblick ist mir jedoch überhaupt nicht nach onanistischen Tätigkeiten welcher Art auch immer. Ich fühle mich wie ein ausgewrungener Waschlappen nachdem ihn Mike Tyson in die Mangel genommen hat. Mein Magen dreht sich rasend schnell im Kreis herum, ich könnte kotzen, doch da ist nichts zum herauswürgen. Mutlos blicke ich an den Tischbeinen hinauf. Himmel nochmal, warum ist mir bloß so unendlich übel? rumort eine leise Stimme hinten links in meinem Kopf. Das kommt vom Saufen, mein lieber Freund! antwortet eine andere Stimme aus entgegengesetzter Richtung. Sie hat wohl recht! Puh, Mann oh Mann, L’Herault ist immer wieder ein fürchterlicher Dampfhammer! schießt es durch meinen pochenden Schädel. Ich greife nach der Tischkante und ziehe mich kraftlos daran hoch. Mir ist schwindelig, mir ist speiübel, so unendlich übel. Wie ein aussortierter Müllsack lasse ich mich auf den klapprigen, windschiefen Korbstuhl fallen. Meine tatterigen Finger wühlen sich klamm und kalt in einen Tabaksbeutel. Erstmal eine rauchen, dann sieht die Welt schon anders aus. Der Rauch beißt säuerlich bitter in meine Mundhöhle, legt sich wie heimtückischer Schleim auf meine Zunge, vermischt sich mit den Giften des gestrigen Abends. Holla, was für ein explosives Morgengemisch!

Schlapp und erledigt, mit rotierenden Kniescheiben und wabbligen Wadenmuskeln stemme ich mich aus dem Stuhl, trotte hängenden Kopfes in das Badezimmer. Endlich, ich pisse. Eine Drehung des Kopfes nach links, ich sehe mein Gesicht im Spiegel. Meine Augen sind fürchterlich gerötet, die Haut ist käsig grau und eingefallen, die Lippen aufgerissen, dicke, schwarze Balken unter den Augen. Ich schnappe mir die Zahnbürste, schrubbe meine belegten Zähne blank, klatsche händeweise eiskaltes Wasser in mein Gesicht, lasse es über den ganzen Kopf, in den Nacken, den Rücken hinunterlaufen. Aaaah, die ersten Lebensgeister kriechen alkoholgeschwängert aus ihren morastigen Höhlen. Schön, Zeit ein wenig Luft in die verstunkene Bude zu lassen.

Ich trete gähnend an das Fenster, öffne die schweren, knarrenden Holzflügel, das Leben braust herein. Auf der Straßenseite gegenüber ist ein Mord geschehen, die Flics stehen ratlos um einen auf dem Pflaster liegenden, blutüberströmten Kerl. Von weitem dröhnt das Rumpeln der Züge in das Zimmer, der Abschaum der Nacht betritt lichtgeblendet die Helle des Tages. Nutten in blaßgrünen Morgenmänteln schlurfen auf kleine Balkone, ein Penner grabscht auf der Suche nach etwas eßbarem in einer Mülltonne herum, zwei Araber tauschen geheimnistuerisch Geld gegen Drogen. Hier pulsiert das Leben, nebenan wohnt gleich der Tod, Wolken schwerer Gerüche, Abgase, Parfum, Pommes Frites, Kloakenwasser, ein undefinierbares Gemisch, durchsetzt vom ewig gleichen Dunst der Gitanes und Gauloises, schwebt zu mir empor, dringt unverhohlen und rauh in meine verstopfte Nase. Diese Stadt ist Rausch, eine permanente Gratwanderung, ein ständiges Hin und Her und Vor und Zurück, ein Ameisengetümmel ohne Unterbau. Vor mir ausgebreitet liegt das zuckende Herz Europas, die Stadt aller Städte, die klaffende Möse des Weltenrunds, die große Hure, der Moloch der Grande Nation, zu meinen Füßen bebt und lebt, singt, kreischt, flüstert und summt, rast und taumelt die Stadt des Lasters: PARIS.

Und ich staune, Herrgott, was staune ich mir die Augen aus dem Kopf! Immer noch, wie jeden Morgen, den ich hier erwache, komme aus dem Staunen überhaupt nicht mehr raus, aus dem Staunen über diese Stadt, über mich, über alles und nichts und noch viel mehr. Jedes Mal aufs neue erschlägt mich Paris mit seinen steinernen Prunkfäusten, erwürgt mich mit seinen verschlungenen Alleen und prankenhaften Boulevards, erstickt mich mit seinen Duftschwällen, seinen liebestrunkenen Frauen, säugt mich mit seinem Lebensblut. Wie herrlich, oh wie herrlich ist Paris am Mittag, wie wundersam still am Morgen, wie tobend und tollwütig am Abend! Paris ist meine Geliebte, seit Monaten schon, und nur eine vorher kam ihr jemals gleich!

Mein Magen knurrt, ein fieses, flaues Gefühl sticht in meinen Magenwänden. Hm, da gibt es ein Problem, wie jeden Tag. Ich habe Hunger, aber habe ich auch Geld? Wenigstens ein paar Sous für ein Baguette und ein Stück Käse? Ich durchwühle meine Hosentaschen, finde alles zusammen achtzig Centimes. Das reicht nicht mal für ein halbes oder auch nur ein viertel. Ich gehe in das andere Zimmer hinüber. Das ist das bescheidene Reich von Maurice. Ein mit Zetteln und Krimskrams übersäter, uralter Schreibtisch steht dort, ein einfaches Bett mit unzähligen Decken. Maurice ist eine notorische Frostbeule. Vergilbte Gardinen flattern armselig und sinnlos vor der braunen, dreckigen Fensterscheibe herum, auf dem taubengrauen Teppich liegen zerfledderte Bücher in heilloser Unordnung: Hugo, Rimbaud, Zola, Dumas, Verlaines, Sartre der Idiot, Camus der Schlappschwanz, dazwischen Journale und Kinoprogramme und benutzte Unterhosen und schweißgetränkte Socken und Telefonkabel und Kaugummipapier und Bleistifte und ein Kondom. Das alles interessiert mich jedoch im Moment überhaupt gar nicht, denn ich habe Hunger. Im abbruchreifen Kleiderschrank hängen seine Jacketts. Die sind für mich im Laufe der Zeit zu einer wahren Schatzkammer geworden und haben mir bereits mehrere Male aus der Patsche geholfen. Unglaublich, aber in den Taschen ist immer Geld. Mal ein Fünfziger, mal ein Hunderter, mal auch nur ein paar Zehnfrancstücke. Ich weiß auch nicht, ob er sie dort vergißt oder ob er einfach nur zu schusselig ist, das Geld da raus zu nehmen. Jedenfalls scheint er nicht zu bemerken, daß ich ihm zuweilen etwas stibitze. Oder er ist so großmütig, einfach darüber hinwegzusehen. Zutrauen würde ich es ihm. Auch wenn er die süße Rabbinerin ficken will, ist er nämlich ein Prachtkerl. Und außerdem tut ihm das bestimmt nicht weh, denn trotz der erbärmlichen Gardinen ist Maurice reich, ja, nach meinem Ermessen fast ein Millionär. Eines Tages, als ich wieder mal pleite war und mich gerade daran machte, eine Packung Reis, die bereits drei lange Jahre das Überschreiten des Verfallsdatums in dem wurmstichigen Küchenschränkchen überlebt hatte, in den Topf zu schütten, langte Maurice in seine Hosentasche, lächelte verschmitzt und drückte mir einen Tausendfrancschein in die Hand. „Tiens mon ami, tu dois manger." Das war alles, was er dazu sagte. Das muß man sich einmal vorstellen! Einfach so. Und er ist Jude und ich bin Deutscher! Ich habe seine Mütter, Väter, Omas und Opas, Töchter und Söhne, Onkels und Tanten vergast. Und er, er gibt mir einfach Geld, die gute Seele. „Tu doit manger!" Ich schäme mich, Deutscher zu sein! Ich schäme mich nicht nur für Auschwitz und Buchenwald und Bergen-Belsen, nein, nein, ich schäme mich auch für Rostock und Greifswald und Heinrich Böll und Lothar Matthäus und Toni Schumacher, ich schäme mich für das ganze beschissene Land, seine Kälte, seine ganze drittklassigen, froststarrenden Erbärmlichkeit. In Deutschland würde nie ein Mensch auf die Idee kommen, einem runtergekommenen Dichter dreihundert Mark zu geben. In Deutschland gibt man den Hunden und Katzen Pal und Breckies, den Kindern gibt man Mars und Milka. Mir gab man einen Tritt! In Deutschland ist der Dichter nichts wert, keinen Pfifferling. In Frankreich ist er König, man achtet und bewundert den schreibenden Menschen. In Deutschland ist ein Schriftsteller ein Nichts, ein fauler Sack, ein arbeitsscheues Arschloch, zumindest solange, bis er in der FAZ oder im Spiegel oder in der Süddeutschen oder in irgendeinem vergleichbaren Käseblatt gnädige Erwähnung findet. Bäh, Journalisten, zur Hölle mit dem Pack! In Deutschland zählt nicht, daß einer schreibt, sondern daß er etwas veröffentlicht und damit gute Deutsche Mark verdient und dem braven Steuerzahler nicht auf der Tasche liegt. Sei’s drum, scheiß auf Deutschland, ich bin hier im Paradies, mitten im Lebensstrom, der in Deutschland schon seit Generationen versiegt ist. Deutschland ist tot, gekillt von seiner eigenen Kaltherzigkeit, seiner Leblosigkeit, seiner ordnungsfanatischen Spießigkeit. Fickt Euch kollektiv ins Knie ihr Helmuts und Werners und Erichs und Adolfs und Jürgens!

Ich finde doch tatsächlich einen Zweihundertfrancschein und nehme in an mich. Mann, habe ich ein schlechtes Gewissen! Aber ich habe auch Hunger und kein Geld. Es muss also sein. Ich bin nicht nur auf der Flucht, bin nicht nur ein Verräter, ich bin auch ein verdammter Dieb. Egal, was kommt es noch drauf an, ich habe Hunger und im Grunde bin ich mir sicher, dass Maurice längst von meinen Streifzügen durch seinen Kleiderschrank weiß und mit dem souveränen Lächeln eines generösen Weltjuden darüber hinwegsieht. Ich liebe ihn, liebe ihn als meinen Freund, als meinen Retter, meinen Bruder und mein Spiegelbild. Ich liebe ihn als Menschen, nicht als Geldgeber, liebe ihn von Herz zu Herz, und es ist mir scheißegal, dass er die Rabbinerin in den Arsch ficken will. Wahrscheinlich steht sie eh drauf und das ist ihm zu Ohren gekommen. So ein Schweinehund, aber ich bin mir sicher, dass sie drauf steht, die kleine Judennutte, die verfickte, geile Rabbinerin.

Ich schwinge mich in meine Klamotten, sprinte die braune Holztreppe hinunter. Draußen umfängt mich ein milder Herbstwind, bläht meine dünne Jacke auf wie das Segeltuch eines Armadaschiffes zu Zeiten der spanisch-niederländischen Kriegsscharmützel. Die Rue Guy Moquet ist eine kleine Seitenstraße, die an der Metrostation Brochant rechts von der Avenue de Clichy abgeht und sich weiter oben nach Montmartre hinaufschlängelt. In diesem Viertel leben mehr Araber als Franzosen und dazu ein paar Juden. Alle kommen normalerweise miteinander aus, der Mord am Morgen war eine Ausnahme, so etwas passiert hier selten, es geht zwar hoch her hier, aber meistens bleibt es friedlich. Man fühlt sich seltsam sicher und geborgen zwischen den grauen, schäbigen Fassaden, zumindest sicherer als nachts um halb eins in der Innenstadt von Bielefeld oder Hildesheim oder Erkenschwiek oder Magdeburg oder Bitterfeld. Der Gemüsehändler an der Ecke grüßt mich freundlich, auch wenn ich gar nichts bei ihm einkaufe und nur so an ihm vorbeischlender. In einem Frisörsalon lassen sich die Afrikanerinnen den lieben langen Tag lang Dreadlocks flechten, man trinkt Tee, hält ein Pläuschchen, eine Atmosphäre von Müßiggang liegt am Tage über dem ganzen Viertel. Doch schon ein paar Meter weiter vorne in der Avenue de Clichy, am Café de Soleil, beginnt es zu brodeln. Der Geruch gegrillter Hähnchen schweift schmeichlerisch um die Ecke, auf der Terrasse sitzen Menschen in allen erdenklichen Hautfarben, in den seltsamsten Trachten und Kostümierungen. Ist man erst auf der Avenue de Clichy knallt einem der Lebensstrom von Paris direkt vor den Bauch. Hier herrscht immer Stau und es ist geradezu waghalsig die Straße zu überqueren, selbst wenn die Ampel grün zeigt. Bis man hinüber ins Rotonde oder ins Chez Armand gelangt, vergehen manchmal zehn Minuten und mehr.

Ich stapfe die Avenue de Clichy hinauf, atme den Dampf der Kanaldeckel, betrachte versonnen die spärlich belaubten, kümmerlichen Bäume am Straßenrand. Eine einbeinige Taube humpelt durch den Rinnstein, pickt nach einem aufgeschwemmten Stück Weißbrot. Auf dieser Straße ist immer was los, Tag und Nacht wälzt sich ein schier unendlicher Menschenstrom zum Place de Clichy hinauf. Manchmal sitze ich stundenlang auf einer der abgewetzten Holzbänke und sehe mir diese formlose Masse an. Drei kichernde Schulmädchen, davon eine wunderschöne, zauberhafte Nymphe mit exorbitant großen Titten, hünenhafte, breitschultrige Schwarze, die einer amerikanischen Footballmannschaft entlaufen zu sein scheinen, elegant gekleidete Damen und Dämchen, eitle, eingebildete Italienerinnen, aufgemotzte Franzosenmachos, biersaufende, tätowierte Engländer, sommersprossige, rothaarige Australier, Hunde in allen Größen und Fellschattierungen von schneeweiß bis kotzbraun, Gott sei Dank kaum Schäferhunde. Unter der Straße hämmert die Metro im Minutentakt über die Gleise, fräst sich durch die engen, stickigen Tunnelröhren. Sie bestimmt hier den Rhythmus des Lebens, der Zeit, der Liebe, des Lasters, des Stuhlgangs.

Ich kaufe ein Baguette bei meiner Bäckerei, wo ich mein Baguette jeden Tag kaufe, weil es das Beste Baguette ist, das ich je gegessen habe. Es ist so frisch wie nirgends sonst in Paris und knusprig und braungelb, so, wie ein Baguette sein muß. In einem Supermarkt kaufe ich noch ein Stück Käse dazu, fertig ist mein Frühstück. Ich höhle das Brot mit meinem Daumen aus und stopfe den Käse hinein. Mmmmh, es gibt nichts besseres! Ich esse im Gehen. Es macht mich wirr und trunken zu Fuß durch diese Stadt zu marschieren. Ich fühle mich wie Kolumbus, Marco Polo, Vasco da Gama, Julius Cäsar. Ich bin der Eroberer von Paris, ich werde diese verdammte Hure in Eilmärschen durchqueren, werde sie überrennen wie die Hunnen einst Belgien überrannten, oder war es doch Finnland. Keine Ahnung, und was interessiert das schon, was spielt das überhaupt für eine Rolle, verflucht, sollen sie alle rennen und sich die Schädel einschlagen, was hab ich damit zu tun. Ich will leben und ich werde Paris im Handstreich nehmen und mir unterwerfen und das alles ohne jedes Blutvergießen. Ich werde diese Stadt auspressen wie eine saftige Limone und mit ihrem Most meine verstaubten Adern fluten. Vielleicht, vielleicht finde ich hier sogar die Medizin, die Wunde zu heilen, die ewig blutende Wunde. Von links unten nach rechts oben durchzieht die immer wieder aufplatzende Narbe auf ungefähr fünfeinhalb bis sechs Kilometern meinen Seelenraum, faustgroße Einstiche reihen sich hübsch ordentlich in schnurgerader Linie entlang dieser dunkelrosigen Fleischbahn. Immer, immer wieder reißen die mühsam geflickten Nähte, immer, immer wieder platzt die Narbe auf. Dann tritt ihr Antlitz vor mein inneres Auge und ich winde mich in Krämpfen. So süß, oh so unerhört süß lächelt mir ihr Bild und mir bleibt nichts als die bedingungslose Kapitulation. Dagegen bin ich absolut machtlos, dagegen habe ich nicht die geringste Chance, das zerreißt mich in tausend Stücke, zersplittert mich in unzählige Scherben. Oh Paris, meine heilige Hure, sei mir Balsam und Wundcreme, heile oh heile die ewig pochende Narbe, verscheuche die Gespenster der Vergangenheit, nimm mich in deine Arme, Stadt der Städte, drücke mich an deine starke Brust, schenk mir Frieden in den Schluchten, nach Jahren, Tagen, Stunden des Schmerzes, nach Monaten und Wochen und Minuten des Krieges mit dem Schatten meines zertropfenden Herzens.

Michael Zoch (Braunschweig)

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