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Bananen

von Sabine Scholz


Am nächsten Tag hatte ich meine Philosophieprüfung. Ich saß vor meinen Büchern, konnte mich aber nicht konzentrieren.
Abends kam Erich. Er war 12 Jahre älter als ich und sehr behaart. Er beschäftigte sich in seinem Seminar mit Platons "Phaidros". Er gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und legte sich auf die Couch. Dann bat er mich, ihm doch etwas zu essen zu machen, da er direkt von der Uni käme. Er zündete sich eine Zigarette an und zog seine Schuhe aus, die er seit Monaten nicht geputzt hatte. Die Schnürsenkel waren abgerissen, so dass er sie nicht mehr binden konnte. Beim Gehen trat er auf die Überreste.


"Bist du schon aufgeregt wegen Morgen?" Ich versuchte ihm nicht zu zeigen, wie nervös ich war. "Nicht besonders. Es wird schon schief gehen." "Bist du der Meinung, dass, falls die Seele sterblich bzw. unsterblich ist, das jeweils eine völlig verschiedene Moral begründen müsste?", fragte er und biss in das Schinkenbrot, das ich ihm gemacht hatte. "Nein, für mich zählt nur der Humanismus als Moralprinzip und nicht die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt."


Ich stand am Fenster und blickte in die Nacht. Es klopfte an der Tür. Marion fragte mich, ob ich ihr mit einer Flasche Rotwein aushelfen könnte. Während ich mit Marion in der Küche verschwand, aß Erich zwei Bananen.
Als ich zurückkam, hatte er die Schalen auf den Teppich geworfen. Das tat er nicht nur in fremden Wohnungen. Seine eigene Wohnung sah aus wie eine Müllhalde. Der Boden war übersät mit Papier, auf das er mit seiner Kritzelschrift Notizen gemacht hatte. Dazwischen lagen Bücher und Kleidungsstücke. In der Küche, wo die Kaffeemaschine stand, erhob sich ein Berg von eingetrocknetem Kaffeepulver. Erich hatte nur Kaffee zu Hause. Das war sein Glück, denn sonst hätte sich bestimmt längst einiges Ungeziefer bei ihm eingenistet. Zum Essen ging er ins Restaurant oder zu mir. Ich besuchte ihn so gut wie nie. Einmal hatte ich bei ihm sauber gemacht – in der Hoffnung, er würde daraufhin selbst alles in Ordnung halten. Doch das war ein Irrtum. An der Wand stand ein Spruch: "Ordnung ist für die Dummen da. Das Genie überblickt das Chaos."


"Angenommen, es gäbe so etwas wie die Auferstehung des Körpers nach dem Tod, welcher Körper würde es sein? Der Körper, den man zum Zeitpunkt des Todes hatte oder ein jüngerer?", fragte Erich und legte sein Buch zur Seite. "Ich halte die Auferstehung des Körpers für wenig wünschenswert, denn das hieße doch, dass auch die Krankheiten und Mängel mit auferstehen würden."
Mich schauderte bei dem Gedanken, dass ich mich im Jenseits mit einem alten Körper begnügen sollte, und das eine Ewigkeit lang.


Erich waren die Augen zugefallen, sein Atem ging tief und gleichmäßig. Ich holte mein Tagebuch hervor. Am liebsten hätte ich Erich hinausgeschmissen, aber er schlief so fest. Ich musterte ihn. Wir hatten seit Monaten keinen Sex mehr miteinander, weil ich Widerwillen dagegen empfand.
Jedes Mal wenn ich ihm zu erklären versuchte, dass er kein Partner für mich war, dass unsere Beziehung nur rein freundschaftlich wäre, versuchte er mich an sich zu ziehen. Mit seiner groben Zärtlichkeit drückte er mich und wollte mich küssen. Erich kannte keine Leidenschaft. Er konnte lieben und mit einem Auge in ein Buch schielen. 
Er war ein Mensch, der sich an jedem Ort zu Hause fühlte. Er arbeitete sogar an Bushaltestellen. Nichts konnte ihn davon abhalten, einen Stift herauszuholen und seine wissenschaftlichen Theorien aufzuschreiben. Wenn wir im Sommer zusammen ins Freibad gingen, nahm er seine Bücher mit, legte sich in die pralle Sonne und arbeitete mit zugekniffenen Augen an der Vorbereitung für sein Seminar. Die Prüfung am folgenden Tag hatte ich ohne Probleme bestanden. 


Es klingelte an der Tür. Erich war da. Ohne mich zu beachten, stürzte er zur Tür herein, warf seine Jacke auf einen Stuhl und begann, unruhig auf und ab zu gehen. "Dir gelingt es einfach nicht, dich auf mich einzustellen. Das ist unser Problem!" warf er mir vor. "Du weißt ja noch gar nicht, ob ich die Prüfung bestanden habe. Ich habe sie bestanden, und zwar mit einer Zwei!", sagte ich und blickte ihn an.
"Das war doch klar!" Diese lakonische Antwort war sein einziger Kommentar zu meinem neuen Lebensabschnitt. Erich öffnete den Kühlschrank und nahm sich ein Bier heraus. „Du hast dich sehr zu deinem Nachteil entwickelt." sagte er und machte ein böses Gesicht. Seine Stimme klang sehr männlich. Ich mochte seine Stimme. Ich ging zur Tür und öffnete sie. Erich verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen.

© 2001 Sabine Scholz (Turin)



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