Schnipsel

Im Café

Eine Geschichte von Dirk Becker


Regen schießt die Strasse hinab wie in einem Eiskanal. Von der Ober- zur Unterstadt hin hatte die Straße natürlich ein enormes Gefälle. Dies reichte aus, um auch größere Dreckhaufen mitzureißen, die sich den Wassermassen in den Weg gestellt hatten. Das Kopfsteinpflaster glänzte wie lackiert in der Dauerberegnung und es kam mir so vor, als wäre es noch nie so schön gewesen wie jetzt. Kopfsteinpflaster erinnert an alte Zeiten. An Kutschfahrten, Gaslaternen, Menschen in Gehrock, Zylinder, Überzieher, Reifröcken.
Es mag unglaubwürdig klingen, aber ich bin der festen Überzeugung, dass Steine Zeit speichern können. Wenn man seine Hände auf altes Gemäuer legt und seine Stirn dagegen presst, spürt man den Atemhauch der Jahrhunderte, den Herzschlag einer lange verflossenen Zeit, so wie Regentropfen, die eine Straße mit Kopfsteinpflaster hinunter fließen und in Sekundenschnelle schon wieder Geschichte sind. Ich liebe alte Städte, alte Gemäuer mit ihrer Geschichte. Mit ihrer wahren Geschichte oder mit einer, die ich mir ausdenke, wie es hätte sein können.

Das Café befindet sich in der Altstadt, im Hinterhof eines Gebäudes in Backsteingotik, und ist nur durch eine große, dunkle Tordurchfahrt zu erreichen. Es ist alt. Man könnte meinen, die längst verstorbenen Größen deutscher Dichtkunst hätten hier ihre Verse geschmiedet und sich beim Schütteln von Stabreimen die Zeit vertrieben. Butzenglasscheiben blicken in einen Hof mit blankpolierten Kopfsteinen. Verrostete Eisenringe an den Wänden zeugen von einer Zeit ohne Automobile. Der Geruch von Pferdeäpfeln und das Schnauben und die Ausdünstungen von Pferdeleibern scheinen noch in der Luft zu liegen.

Die Decke ist niedrig und durchgebogen. Das ganze Gebäude scheint sich dem Zahn der Zeit und seinem Alter entsprechend gebeugt zu haben. Schwaden von Zigarettenqualm und der Tobak starker Zigarren durchziehen den Raum. Vielleicht hängen im Deckenruß noch Reste von Goethes Pfeifenqualm, und Stückchen seiner rauchkonservierten Gedanken lösen sich, um in die Gläser der hier versammelten Gäste zu fallen. Möglich, dass dann der eine oder andere plötzlich einen lyrischen Geistesblitz hat und ihn auf einem der verschmierten Bierdeckel festhält.

Durch die Butzenscheiben und die Schwaden verschafft sich das Licht strahlenweise Zugang. Der Tresen im hinteren Teil des Cafés ist, wie das übrige Mobiliar auch, in dunklem Holz gehalten. Eine Keramiksäule mit zwei Zapfhähnen, zwei Spülbecken aus Edelstahl, ein Abtropfblech, Gläser. An der Rückwand Batterien von Flaschen. Unterschiedlich gefüllt, die gesamte hochprozentige Welt auf den Kopf gestellt und in Spenderhalterungen gehängt.

Der Wirt ist mittleren Alters. Etwas bauchig vielleicht, wie die meisten seiner Flaschen. Lebendes Inventar dieses Cafés, denn seit ich hier einkehre, steht er hinter dem Tresen und putzt seine Gläser, schenkt ein oder lauscht den Gästen, wenn sie mit ihm über die Alltäglichkeiten dieser Welt plaudern. Kaum, dass er etwas dazu sagt. Es reicht, hier angehört zu werden. Etwas, das vielen heute fehlt – Zuhörer zu haben, die auch zuhören können. Ohne gelangweilt zu gähnen, sich von Telefon oder Handy ablenken zu lassen oder sich mit einem stereotypen "Ich hab noch einen Termin! Lass uns nachher in Ruhe darüber reden." aus dem Dialog zu stehlen.

Meine bevorzugte Ecke ist der Platz am Fenster. Die Butzenscheiben brechen das Licht prismenartig, wobei die einzelnen Strahlen bunte Bilder auf die verschrammte Tischplatte malen. Auf dem Fenstersims liegt der Staub verflossener Tage. Irgend jemand hat mit dem Finger eine Telefonnummer hineingeschrieben. Vielleicht sollte ich dort mal anrufen. Entschuldigung, ich bin der Falsche, aber Ihre Nummer war so interessant und ich dachte, vielleicht könnten wir auf einen Kaffee.... Nein, natürlich würde ich nicht anrufen. Vielleicht auch, um mir Enttäuschungen zu ersparen.

Der Wirt brachte mir den Kaffee. Cappuccino ohne Zucker, mit einem kleinen Stück Gebäck. Ich bin es gewohnt, allein zu sitzen. Dann kann ich ungestört meinen Gedanken nachhängen. Meine Blicke wandern durch den Raum, saugen die Eindrücke auf. Menschen, Bewegungen, Situationen, Gesprächsfetzen, Merkwürdigkeiten. Einen Notizblock habe ich immer bei mir. Zum Festhalten der flüchtigen Dinge. Schreiben ist für mich Leben. Mit einem Stift in der Hand flüchtig hingeworfene Zeichnungen auf ein Blatt Papier malen, abstruse Piktogramme meiner Gedanken, unsortiert, der logischen Einordnung harrend. In meinem Arbeitszimmer häufen sich diverse Schreibgeräte. Je origineller, desto besser. Manchmal ist die Funktionalität kaum noch gegeben. Aber sie sehen witzig aus, sind Sonderlinge in dieser Welt der Normen, wie ich selbst auch.

Manchmal sitze ich stundenlang hier. Auf den kleinen gewölbten Scheiben kann man die Sonne wandern sehen. Ihre gebrochenen Strahlen springen von Tisch zu Tisch, schieben sich über Speisekarten, Manuskripte, Tageszeitungen, Kartenspiele. Die Stunden zähle ich nach der Anzahl der Cappuccinos, die ich bestellt habe. Pro Stunde einen. Zuerst schlürfe ich den weißen Schaum aus der Tasse, widme mich dann dem kleinen Gebäckstück und verbringe den Rest der Stunde mit dem Leeren der Tasse. Dass die Stunde voran schreitet, merke ich daran, dass der Inhalt der Tasse immer kühler wird. Es macht mir aber nichts aus.
Doch ohne irgendein Getränk am Tisch zu sitzen, käme mir albern vor, hier, in einem Café. Dies ist keine Wartehalle und der Wirt könnte von der reinen Anwesenheit seiner Gäste kaum existieren. Dabei frage ich mich, wie er überhaupt sein Auskommen mit diesem Café finden kann. Außer den Gebäckstückchen zum Cappuccino gibt es hier keine Kuchen oder anderen Naschereien.
Etwa die Hälfte der Gäste trinkt Kaffee. Dann sind da noch ein paar Teetrinker. Der Rest begnügt sich, auch widersinnig in einem Café, mit Bier und ab und zu mal einem Korn. So weit ich es beurteilen kann, haben hier täglich kaum mehr als 30 Menschen gesessen, seit ich diesen Ort als Dauerlokation für meinen Rückzug vom schnellbrandenden Lebensfluss der Welt gewählt habe.

Wenn es dunkel geworden ist und der Schein der Kerzen auf den Tischen sich in den Butzenscheiben widerspiegelt, wird es langsam Zeit für mich zu gehen. Ich habe die Abrechnung mit meinem Tag gemacht. Der Wirt wird seine gleich beginnen. Ein Großteil der Gäste ist schon verschwunden. Andere Termine, eine Verabredung zum Abendessen - vielleicht.

Ich gehe zur Jukebox und wähle meinen Titel. Der Wirt hat, mehr aus Mitleid als aus eigener Erinnerung, diese Scheibe extra für mich mit ins Repertoire aufgenommen. Bei mir hat der Titel, trotz der ständigen Wechsel in den Musikrichtungen, die Zeit unbeschadet überdauert. Er mag nicht jedermanns Geschmack sein und zu Hause höre ich mir auch Pink Floyd, die Beatles, Uriah Heep oder Liedermacher wie Lindenberg oder Wolfgang Ambros an. Aber jetzt, zu dieser Stunde, allein im fast leeren Café am Fenster sitzend und auf die sich in den gewölbten Scheiben spiegelnden Kerzen schauend - hier und jetzt möchte ich es hören, "Suzanne" von Cohen. Vielleicht, weil es bei mir keine Suzanne gibt und die raue melancholische Stimme so gut zu meiner eigenen Stimmung passt.
Ich schließe die Augen und schwebe an die Decke, zwischen diese rauchgeschwängerten Zeitgedanken, fühle mich um Jahrzehnte, Jahrhunderte versetzt - atme, spüre, lebe, bin dieses alte Gemäuer.

Wie immer im Leben, sind die schönsten Dinge nur von kurzer Dauer. Knapp vier Minuten braucht es, bis die Nadel des Plattenspielers in der Auslaufrille zur Ruhe kommt und der Schwenkarm der Jukebox die Platte wieder zurück ins Archiv schiebt. Ein paar Minuten gönne ich mir noch, bleibe einfach mit geschlossenen Augen sitzen. Dann stehe ich auf und trete hinaus in die kühle Nacht. Der Wirt kennt mich und wird meine Cappuccinos aufschreiben. Einmal im Monat bezahle ich. Es gibt so viel in dieser Welt, wofür man bezahlen muss. Aber dies hier, dieses Gefühl und diese Stunden, sind es mir wert. Hier erwarte ich gern am Monatsende die Abrechnung.


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