Schnipsel

Jörg Neugebauer: "denksagung"

- zeitgenössische Lyrik

ich schwebe über der sonnenbrille
Immer wenn ich Jörg Neugebauers neuen Lyrikband “denksagung“ zur Hand nehme, betrachte ich den in sich gekehrt lächelnden Herrn mit Sonnenbrille auf dem dunkelroten Einband, der da im Fond eines Wagens sitzt … doch halt! Das ist kein Wagenfond, es ist vielmehr vor einem Fenster oder …
Wo diese Aufnahme gemacht wurde, erfährt man nicht; je länger man hinsieht, desto mehr Fragen tun sich auf. Die Sonnenbrille wirkt ein wenig absurd. Entstand das Bild drinnen oder draußen? Interessanterweise ist dieses Autorenporträt vielen Texten in dem schmalen und doch gehaltvollen Buch sehr ähnlich.
Auf den ersten Blick wirken diese immer brisanten, immer überraschenden Texte eigentümlich schlicht. Manchmal erscheint es, als habe man “das“ doch schon x-fach gelesen … doch halt! Hier wird um die Ecke gedichtet: die Gedichte täuschen an, schneiden in heikle Themen mitten hinein und wechseln dann überraschend Ton, Stimm(ungs)lage und Perspektive, ja stellen sogar zwischendurch Fragen wie “aber sind wir denn wir?“
       neugebauer

Die Gedichte wirken anfangs oft regelrecht banal, doch treffen sie immer den Ton, bleiben herrlich lakonisch und biegen mitunter ab ins Heitere; sie kommen da an, wohin der Leser selbst vermutlich nie gekommen wäre.
“Noch einmal schaue ich mich um / schön ist es hier / werde ich wiederkommen“ — resümiert das lyrische Ich und erkennt, dass es sich auch woanders packen und “schön ist es hier“ sagen lässt.
Neugebauers Texte sind vielfältig, haben ihren eigenen hintergründigen Humor und stellen bisweilen die Banalität in den Begebenheiten des Alltags in all ihrer Absurdität bloß — geradezu valentinesk … doch halt! Gerade, als man loslachen will, hält man inne, denn zum Lachen ist vieles, was vordergründig zum Lachen reizt, eigentlich nicht.
Der Kenner genießt und – lächelt. Schon das Hegelmotto zu Beginn gibt den Hinweis, dass hier gewichtige Themen zur Sprache kommen. Neugebauers Texte sind vielfach eine Anleitung zur Selbstfindung. Die Pointen einiger Texte liegen im Halbdunkel des bewusst Ausgesparten. “ich wasche meine hände / jawohl ich wasche sie mir / ungewaschen könnte ich meine hände jetzt nicht / ertragen /ich wüsste gar nicht wohin / gewaschen erst sind sie mein.“ Gäbe es einen gelungeneren Text über das Händewaschen in Unschuld?
Tradition klingt an, ist präsent: “Es gehen Bäume, gehen mit hohem Schritt / den Fluss entlang“. Klassische Sujets wie Himmel, Berge, Monde werden nie zum Versatzstück und können immer noch etwas „Neues sagen über den Mond“. Wahrnehmungsgrenzen bzw. –blockaden werden gekonnt aufgeschlüsselt wie im Text „leuchtkäfer“.
Der Lebensentwurf eines Sechseinhalbjährigen wird in all seinem Kindlich-Grotesken durchdekliniert. Manch lyrisches Ich sucht das Glück, das ihm nicht in den “Schoß“ gefallen ist, schon mal bei der “Liebsten“ und nimmt in “elegie dreizehn mittags“ eine gänzlich ungebrochene Männerperspektive ein: “in aalen habe ich die ersten brüste meines lebens berührt“.
Einige Gedichte könnten als reine Männergedichte gelesen werden … doch halt! Auch hierfür gibt es Liebhaber- und LiebhaberINNEN!!!
Insgesamt bin ich von der Vielseitigkeit der Themen und Tonfälle überrascht und begeistert; die Texte sind da eine Bereicherung, wo sie banale Vorgänge der Alltagswelt durch die kindliche Sonnen-Brille neu betrachten.



Rezension Claude Kupfer (Arkadien)

"denksagung" von Jörg Neugebauer
Salon Literaturverlag 2007, 93 S.

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