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Schnipsel

Deutschland, kurz vor 2000

- eine Geschichte von Alfred Büngen

Der Freund soll hier wohnen, Schillerstraße 112. Über zwei Stunden fährt er bereits mit der Bahn und dem Bus, um diesen Ort aus Beton zu erreichen. Schneematsch klebt an seinen Füßen, vor den Augen wirbeln weiße Flocken, scharfer Kontrast zu seinem schwarzem Gesicht. Das einfallslose Blau seiner Jacke mit gestepptem Bund wärmt nur wenig, bremst den schneidenden Wind kaum ab. Zu Beginn der Woche fragte er auf dem Ausländeramt nach der Bewilligung für diese Reise, da er keine Fahrt über eine bestimmte Entfernung hinaus ohne Behördengenehmigung durchführen darf. Am Ende eines vormittäglichen Wartens warf sein stets freundlich grinsender Sachbeamter ihm zwischendurch auf dem Flur den erhofften Satz der Erlaubnis zu. So mußte er nicht bis zum Abend in der Vielzahl der unbekannten Sprachen verbleiben. Seine Wartenummer vermachte er einem Gelblichen mit noch sehr viel höherer Zahl. Dessen Dank konnte er wegen der asiatischen Sprache des Beschenkten nicht verstehen. Der Mann verbreitete einen ungewöhnlichen Geruch bei seinem schnellen und gestenreichen Sprechen.

Es erweist sich als überaus schwierig, die Wohnung des Freundes zu finden. Alle Wohnungsblockeingänge gleichen sich mit verdreckter Plexiglasüberdachung, der Aneinanderreihung von Klingelknöpfen und den zumeist unleserlichen Namensschildern an der Eingangstür. Teilweise sind die Klingelanlagen aus der Wand gerissen. Der Gehweg schimmert gefrierend, kein menschlicher Laut trotz der Vielzahl von Wohnungen, nur das wütende Gekläff eines verwildert aussehenden Hundes, Müll liegt achtlos verteilt auf dem Rasenplatz zwischen den Blöcken. Ein halb umgeknicktes Schild verbietet das Betreten des Rasens. Autoskeletts warten vom Rost zerfressen am Straßenrand. Es stinkt nach Urin. Dort an der Wand weisen die beiden Einsen, die Null hängt auf dem Kopf ein Stück tiefer, den richtigen Weg. Der nächste Hauseingang wird es sein.

In ihrem gesamten Dorf in Ghana lebten sicherlich noch nicht einmal so viele Menschen, die Kinder und Großväter einbezogen, wie in einem dieser viergeschößigen Blocks mit jeweils vier Eingängen. Dabei stellten sie das größte Dorf ihres Stammes. Eines Nachts kamen die betrunkenen Sieger des Generals Achmeti, dem zum Präsidenten geputschten Häuptling des seit ewigen Zeiten verfeindeten Nachbardorfs. Drei seines Dorfes überlebten, der Freund und er mit viel Blut unter den Toten begraben, achtlos vergessen, und der Verräter, der wenig später von den Siegern auf bestialische Art und Weise auseinandergerissen wurde.

Er sucht den richtigen Klingelknopf, kann aber keinen Namen finden. Doch das Gesicht des Freundes strahlt bereits hinter einer Fensterscheibe, im Treppenaufgang hallt eine Tür. Vertraute Sprache dringt an sein Ohr, Tränen überschwemmen seine Augen, nicht mehr für möglich gehaltenes Glück des Wiedersehens der letzten Überlebenden eines Dorfes in einem fremden Land. Der einzige bewilligte Tag des Ausländeramtes vergeht mit Trauer und Freude im Gefühl weniger Sekunden. Seit dem Mittag verabreden sie ihre Planungen zu einem gemeinsamen Wohnen. Hinter dem freudestrahlenden Optimismus verbergen beide voreinander die Angst und das Wissen vor zu erwartenden, bürokratisch endlosen Entscheidungsprozeduren. Den Weg zum Bahnhof muß er alleine zurückgehen. Das billige Plastikbein des Freundes hat bereits eiternde Wunden am rechten Oberschenkel gerieben. In der schon einsetzenden Dämmerung wendet er sich noch einmal um, winkt mit tränenüberströmten Augen, das Weiß der Augen von roten Adern durchzogen; die beiden Letzten ihres Stammes in einem fremden Land verirrt. Der Deckel einer Mülltonne schlägt im leichten Schneetreiben den blechernen Rhythmus.

In seinem Kopf wirbelt es benommen, die Einsamkeit ohne Sprache und Freund erfaßt ihn bereits nach wenigen Minuten des Alleinseins wieder. Er versinkt in die Tiefe der Erinnerungen an seine Heimat, die nicht mehr existiert. So überhört er noch das metallene Schlagen der Stiefel auf den schmutzigen Betonplatten nur wenige Meter hinter sich. Noch sind es nur zwei bleiche Gesichter, aufgescheucht von der schwarzen Farbe in ihrem Viertel. Aus dem nächsten Eingang reihen sich bereits zwei weitere kahlrasierte Schädel ein. Das Schlagen der Schritte schlägt härter und lauter. Die Hosen der Soldaten des Generals Achmetis schimmerten in gleicher gefleckter Tarnmusterung.

Vorsichtig wendet er sich um, ohne stehen zu bleiben, versucht möglichst belanglos hinter sich zu schauen. Mit seinen noch immer vom Abschied geröteten Augen sieht er die nächsten beiden Jünglinge mit schwarzen Jacken aus ihrem Hauseingang herausmarschieren. Das Stakato ihrer Schritte schmerzt bereits in seinen Ohren. Ein jüngerer Mann mit modischer Kleidung steigt aus einem Auto, verschließt rasch alle Türen des Wagens. Flüchtig betrachtet er das Bild der Bedrängnis, verschwindet mit schnellen Schritten in den Eingang auf der anderen Straßenseite. Die Fensterläden seiner Wohnung in der unteren Etage fallen knallend zu, die Schüsse der Soldaten des Generals Achmetis klangen ähnlich.

Die sonst gespürte Kälte entflieht, sein Rücken wird von ersten ängstlichen Schauern ergriffen. Über die Stirn perlen erste Schweißtropfen, sein Atem keucht bereits stockend. Über den ausgetrockneten Boden der fruchtlosen Wildnis lief er bei der Jagd stundenlang, nicht der, aber einer der besten Jäger seines Stammes. Doch auch die Lunge wurde bei dem Massaker von einer Kugel getroffen, bald schon wird sein Atem zu pfeifen beginnen. Der letzte Block gleitet an seinem Gesicht vorbei, jetzt liegt eine freie Fläche bis zur Stadt vor ihm. Der Wind schneidet ihm scharf ins Gesicht. Hinter ihm trommeln die zermalmenden Stiefel. Kein Wort, kein Ruf, nur das Schlagen der Stiefel auf den Beton hallt durch die Luft. Seine Füße beginnen stolpernd zu laufen. Die Glätte der Sohlen der Sommerhalbschuhe ermöglichen ihm kaum einen sicheren Halt. In seinen Ohren hämmert der Schlag seines Herzens. Die bleichen Jünglinge hinter sich kennt er nicht, sie sind nicht vom benachbarten Stamm, sie haben nichts mit ihm zu tun. Entgegenkommende Autos blenden mit ihrem Fernlicht, die Luftwirbel beim Vorbeirasen bremsen seinen Lauf, seine Not bleibt den Insassen der Wagen unerkannt.

Vielleicht sind es noch fünfhundert Meter, eine ihm unendlich erscheinende Strecke. Hinter sich vernimmt er keine Geräusche mehr. Sein Körper bleibt stehen, vornübergebeugt verschnauft er. Das ängstlich gerötete Weiß der Augen späht vorsichtig hinter sich. Er sieht sie heranmarschieren, unabänderlich rücken sie näher, regelmäßig hämmert der Takt ihrer Schritte, in der Weite des Feldes und dem Lärm vorbeirasender Wagen nicht mehr zu hören. Die Gefahr nähert sich immer drohender. Seine Flucht startet neu. Die Luft wird ihm jetzt schon knapp, jeder Atemzug schmerzt entsetzlich in der Lunge. Bald schon hat er den Rand der Stadt erreicht. Nur kurz verharrt er an der Stange des Ortsschildes, hetzt dann weiter.

Orientierend blickt er hoch. Da sieht er sie vor sich stehen, nicht sehr weit weg. Bleiche Gesichter stehen dort, die Arme über hölzerne Schläger verschränkt. Vielleicht zweihundert Meter vor ihm erwarten sie auf dem Gehweg ihr Opfer. Es sind andere, hinter ihm droht weiter die Gruppe der marschierenden Verfolger. Seine Augen erflehen eine Fluchtmöglichkeit. Quer durch den Garten, über den Zaun..., er wird es versuchen. Schon sieht er sie nicht mehr. Deutsche Weihnachtstannen bieten ihm Schutz vor den Blicken der Verfolger. Er flieht in östliche Richtung, vermutet dort die Innenstadt und den Bahnhof. Hose und Haut zerreißen an der Spitze eines zu überwindenden Stacheldrahtes. Der Besitzer eines Gartens droht durch das Fenster mit geballter Faust. Ein Afrikaner erlaubt sich, die idyllische Ruhe des verschneiten Gartens zu zerstören.

Stimmen hinter den nächsten Büschen bringen die erflehte Zuflucht. Ein Gehweg mit vielen Menschen, er flieht in die schützende Masse. Durch Mützen, Schals und hochgeklappte Kragen vermummte Gesichter bestrafen sein geflohenes Äußeres mit drohenden Blicken. Er leidet ein Meer von Grimassen, niemand zeigt in den Augen nur einen Fetzen von Hilfe. Die Masse von Menschen verdichtet, er weiß sich schon mitten in der Stadt, glaubt sich fast gerettet - wieder einmal. Der Freund hatte ihm heute beiläufig von der Unerträglichkeit seines ewigen Verweilens in der Wohnung erzählt. Er fragte nicht nach, dachte sich die Prothese als Ursache des Verhaltens. Jetzt weiß er es, die Stiefel und Kahlgeschorenen dulden keine andere Farbe in ihrem Viertel. General Achmeti duldete keinen anderen Stamm.

Schon hört er die Geräusche des Bahnhofs, gleich wird er ihn erreichen. In seiner Jacke erfühlt er die Fahrkarte für die Heimfahrt. Die riesigen Zeiger der Uhr am Bahnhof künden noch zwei Minuten bis zur Abfahrt seines Zuges. Schon verschwindet er im Oval der Eingangstüren. Seine eigenen Ängste entweichen zugunsten der Sorge um den hier lebenden Freund. Gleicht morgen wird er den freundlich Grinsenden vom Ausländeramt wieder befragen, wie er am schnellsten das Zusammenziehen mit seinem Freund beantragen kann. Er wird ihm von seiner Verfolgung berichten, von der Unmöglichkeit des Freundes, das Haus zu verlassen.

Sein Körper drängt sich durch die Vielzahl von Menschen in der großen Bahnhofshalle und eilt zu seinem Bahnsteig. Da sieht er sie stehen, die Bleichen mit den kahlgeschorenen Schädeln. Schon haben auch sie ihn entdeckt. Das Zischen des Dampfes aus dem Bremsleitungen seines Zuges kann er bereits hören, eine Stimme befiehlt letzte Einstiegsmöglichkeit zur Abfahrt. Er flieht zurück in die Masse der Reisenden für einen anderen Zug. Doch es sind zu wenige, sie können ihm nicht genügend Unterschlupf bieten. Die schwarzen Jacken kommen näher, er hört das Klacken der beschlagenen Stiefel auf den Treppen zum Bahnsteig. Mehrere Stufen auf einmal flieht er hinunter, versucht im langen Gang und in der großen Halle Vorsprung zu gewinnen. Der Eingang eines Cafés mit gläsernen Türen erscheint ihm ein rettender Fluchtpunkt. In Panik drückt er die Tür auf, eine Vielzahl von Gesichtern widert sich an seinem Aussehen.

Ihn überkommt ein seltsames Gefühl der Gewißheit, ein tödliches Gefühl, das er bereits einmal verspürte. Die Stiefeln mit ihren grinsenden Besitzern drängeln in den kleinen Raum, erst drei, dann immer mehr. Baseballschläger warten in ihren Händen, Fratzen glotzen ihn meuchelnd an. Um ihn herum springen mit Schreien der Angst und des Entsetzens ängstliche Gestalten von Caféhausstühlen. Seine Gedanken geraten in Panik. Schon einmal war er unter dem Schreien sterbender Menschen begraben. Seine Bewegungen werden unkoordiniert, hektisch und verzweifelt. Eine Kaffeekanne fliegt mit klirrendem Zerbrechen vom Marmortisch. Vor lauter Angst sieht er das Glas einer Zwischentür nicht. Die Kraft seines panischen Entsetzens läßt ihn mit kaum glaublicher Wucht durch die Scheibe rasen. Glas zersplittert in alle Winkel des Raumes. Die Zacken zerschneiden seinen Körper an unzähligen Stellen. Das austretende Gefühl klebriger Wärme lähmt ihn. Erinnerungen an den bereits einmal gespürten Tod bemächtigen sich seiner Gedanken. Reisende fliehen mit schreiendem Entsetzen, ungehindert marschieren die Stiefel davon, von einer glotzenden, teilnahmslosen Masse geschützt.

Ein roter See beginnt ihn zu ertränken, noch niemals gemeinsam mit dem Freund darf er sterben. Fassungslos starrt er auf das pulsierende Blut. Sein Körper fällt langsam in sich zusammen, rutscht auf die Scherben des Bodens, die letztes Leben zerschneiden. Schwarzes Nichts verliert sich, umgeben vom ängstlichen Staunen ohne jede Hilfe.


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