Schnipsel

Konkrete Einsamkeit

Bin nicht einsam. Ganz und gar nicht. Wer käme darauf, ich sei einsam? Nur weil ich hier der einzige Mensch bin, der auf seinem Hocker sitzt wie angeleimt und in sein Weizenglas starrt, als würde ihn dort drinnen die Erleuchtung erwarten? Und wenn sie es tut? Man weiß nie. Ist überhaupt nicht absurd. Nicht absurder als die Tatsache, dass ich mal ein Zellhaufen war. Nicht absurder als die Tatsache, dass dieser ganze Planet aus Schutt und Asche entstanden ist und wieder zu Schutt und Asche werden wird. Nicht absurder als alles.

Nur weil die anderen sich besaufen, um ihre sozialen Kontakte zu vertiefen, muss ich das noch lange nicht. Ich brauche dafür keinen Grund. Das ist mir zu konkret. Überhaupt diese ganze Feier. Diese langweilige Betriebsfeier. Ich brauch’s abstrakt. Das Abstrakte ist meins, deshalb kenne ich diese ganzen Irren ja überhaupt nur. Weil ich das Abstrakte liebe. Verehre. Nicht dieses ganze Fleischige, Organische, Schwitzende, aus den Achselhöhlen und Mündern Stinkende. Ich bin Mathematiker und das sind meine Kollegen. Sind aber nicht alles Mathematiker, da sind auch Sekretärinnen, Verwaltungsangestellte, Informatiker und weiß Gott noch alles dabei. Und noch mal: Ich bin nicht einsam. Überhaupt nicht. Die da, die ganzen wackelnden und zuckenden Leiber um mich herum. Die sind einsam. Die sind so furchtbar einsam, dass sie sich gegenseitig die Zungen in ihre nach Alkohol schmeckenden Hälser stecken müssen und bis zum Kreislaufkollaps Foxtrott tanzen. Das ist Einsamkeit, ganz konkret. Konkrete Einsamkeit. Ich bin nicht konkret. Deshalb kann ich gar nicht einsam sein. Es ist mir überhaupt nicht möglich, einsam zu sein. Bin Luft, bin Zahl, bin Geist. Luft, Zahl und Geist können nicht einsam sein. Rein begrifflich gesehen. „Zahl“ und „einsam“ sind Begriffe, die ergeben gemeinsam keinen Sinn. So einfach ist das.

Wenn man seit zwanzig Jahren solche Betriebsfeiern mitmacht, ist auch das abstrakt, eigentlich. Ich abstrahiere alle meine Betriebsfeier-Erlebnisse zu einem Begriff „Betriebsfeier“. Und dieser Begriff bedeutet für mich, vor einem Weizenglas zu sitzen. Und auch die Kollegen sind Begriffe, abstrahierbar. Sie kommen und gehen. So viele junge Gesichter. Auch die sind nicht mehr konkret. Irgendwann hören Gesichter auf, neu zu sein, nur weil man sie noch nie zuvor gesehen hat. Dort, dort wirbelt die Nase von einem alten Schulfreund, darüber Augen irgendeiner Ex-Freundin, darunter der Mund meines Lieblingsprofessors von damals. Kinn irgendeines Schauspielers, Stirn meiner Großmutter. So ist das. Selbst die Sympathie lässt sich jetzt abstrahieren, kumulieren, berechnen. Zu wie viel Prozent setzt sich das noch nie zuvor gesehene Gesicht aus Teilen der Gesichter mir sympathischer Menschen zusammen, zu wie viel Prozent aus Teilen mir nicht sympathischer? Das ist eine simple Gleichung. Daran ist nichts Konkretes, nur weil wir das Abstrakte nicht gleich sehen.

Zugegeben, auf die Konkreten unter meinen Kollegen wirke ich einsam. Einsamkeit ist für sie das gleiche wie Abstand. Ist für sie Distanz. Nicht physisch. Physischer Abstand lässt sich auf solch einer Veranstaltung kaum realisieren. Die Sekretärinnen kleben einem am Hemdkragen. Nein, geistig meine ich. Wenn man genügend Abstand lässt zwischen Luft und Fleisch. Zwischen Luft und ihrem Fleisch und sogar zwischen Luft und dem eigenen Fleisch. Körper interessieren mich sowieso nicht. Sie sind eben da. Sie schwitzen und schwanken, so wie jetzt. Sie machen Lärm, so wie jetzt. Sie kommen auf mich zu, so wie die Schmidt aus der Buchhaltung jetzt auf mich zukommt. Na, was sitzen Sie hier so verloren am Tresen herum?
Verloren? Unsinn. Wieso verloren? frage ich, ganz abstrakt, das sind nur Worte, Symbole, ausgesprochen, luftige Kommunikationsmittel. Sie verströmt einen schweren, süßen Duft, altbackenes Parfum, Haarspray, Waschlotion, die aus der hiesigen Toilette, ich kenne den Geruch, herb, nach Gras, nach Ampfer, widerlich. Selbst ihr Lippenstift riecht, viel zu blumig.

Bin nicht einsam. Ganz und gar nicht. Verloren auch nicht. Bin abstrakt, wissen Sie. Ich liebe das Abstrakte.
Ach, ja? erwidert sie in kokettem Ton und wird konkret, sie will einsam sein, konkret einsam, mit mir. Sie schlägt ihre blutrot lackierten Pranken in meine Weichteile. Reibt darauf herum und haucht mir ihren nach Rotwein stinkenden Atem ins Gesicht. Ihre Augenbrauen, die von meiner Mutter. Ihre Lippen, irgendeine entfernte Bekannte. Ihre Augen – keine Ahnung, fällt mir gerade nicht ein. Sie drückt ihre Brüste in mein Gesicht und reibt mein Geschlecht kräftiger, fordernder.
Wir ziehen uns diskret auf die Toilette zurück. Abstrakt gesehen gebe ich nur dem männlichen Sexualtrieb nach. Der ist stark, das ist was Biologisches, sicher auch mathematisch berechenbar: Um wie viel Prozent muss sie die Durchblutung meines Gliedes steigern, damit ich geil werde? Das bedeutet nicht, dass ich einsam bin.


© Marina Bartolovic (Heidelberg, 2007)

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