Schnipsel

 

noch 'n paar aphorismen:

"Einsprüche"

von René Steininger

 


Die überflüssigsten Geister: Die alles, was sie durchschaut haben, auch einsehen.
Im goldenen, präkolumnistischen Zeitalter der Literatur.
Man ist heute so lustlos in seinen Trieben, wie man früher lüstern in ihrer Verdrängung war.
Das Ideal eines Wissens, das sich selbst genügt, erfüllt erst der Pensionist, der Kreuzworträtsel löst.
In der Rede des Professors versteht man ohne Vorbildung nur die Zitate.
Der Nimbus einer Beamtenlaufbahn erstrahlt, wenn das Haar sich zu lichten beginnt.
Orthopädisches memento mori: Der o-beinige Alte, der unübersehbar wieder auf die Null zugeht.
Die genauesten Biografen: Steinmetze.
Die typische Schriftstellerkarriere beginnt mit einem Attentat, nährt sich vom Plagiat und endet als Selbstzitat.
Von erlesener Schönheit ist nur das unveröffentlichte Gedicht.
Ein Beispiel für die geglückte Anpassung an das Leben stellt der Olm dar: Er muss gar nicht erst erbleichen.
Übung macht den Meister. Der Pragmatiker folgert daraus, dass er durch vieles Koitieren erotischer werde.
Er hatte die richtigen Verbindungen, um einen Roman zu veröffentlichen, aber die falschen Synapsen, um einen guten zu schreiben.
Man spricht von einem 500-Seelen-Dorf, aber von einer 5-Millionen-Metropole.
Man verzeiht dem Tatmenschen sein Verbrechen und überführt den Träumer seiner Gebrechen.
Elternliebe: Die eigene Nabelschau erweitert durch eine Nabelschnur.
Stil verwandelt Interpunktion in Akupunktur.
Was ist Hellsicht? Übertrage die erste Silbe aus dem Englischen, und du weißt es!
Die Gunst, die man Mozart entzog, fällt jetzt seinen verzärtelten Interpreten zu.
Die nächste Revolution von unten wird von denen ausgehen, die sich unsertwegen im Grab umdrehen.
Professorenweisheit: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Aber ein gut eingerichtetes.
Der Vielschreiber hat´s gut. Er kann immer auf Vergriffenes zurückgreifen.
Wer die Stille sucht, wird jedenfalls ungestillt bleiben.
Der Vormarsch der Dicken lässt hoffen, dass künftige Generationen eine ruhigere Kugel schieben werden.
Sie ist auf dem Holzweg. Das Tröstlichste, was sich über die moderne Technokratie sagen lässt.
Das tägliche Wehwehchen gegen den Weltschmerz.
Beim letzten Seitensprung blieb seine bessere Hälfte liegen.
Die über Ikarus den Kopf geschüttelt haben, sitzen jetzt in der Touristenklasse.
Freundschaft unter Philosophen ist Diplomatie zwischen Kannibalen.
Der brave Mann gab mir sein Ehrenwort. Ein Lippenbekenntnis seiner Frau wäre mir lieber gewesen.
R., ein Mittelding aus Freund und Feind: ein Schmeichler. Seine Komplimente sind trojanische Pferde, um mich für ihn einzunehmen.
„Die jungen Leute sind neue Aperçus der Natur.“ (J.W. von Goethe) Oder neue Déjà-vus.
Die Neuerscheinungen erfüllen alle Erwartungen, aber nur das Unveröffentlichte macht Hoffnung.
Die Kunst, aus dem letzten Loch zu pfeifen ohne flöten zu gehen.
Überqualifiziert. Er findet nicht mehr den Weg zu seinem Lebenslauf.
Um seine Einsamkeit von Ambitionen rein zu bewahren, genügt gelegentlich ein Bad in der Menge.
Mein moralisches Ideal ist ein bibelfester Atheismus.
Der Dummkopf hat sich hinreichend vorgestellt, wenn er den Hut lüftet.
Von den Schriftstellern mag ich nur noch lesen, was sie mit den Federn schrieben, die sie lassen mussten.
Besuchermassen im Zoo sind die Sintflut im Bauch der Arche Noahs.
Imagepflege: Je dümmer die Visage, desto viel versprechender die Visitenkarte.
Ich kenne nur einen Fall von anziehender Eitelkeit. Die Frau, die immer zehn volle Kleiderschränke und nichts anzuziehen hat.
Schaulust kompensiert manchmal mangelnde Klarsicht.
Du hast deinen Maulkorb vergessen! sagte der Pudel zum Pitbull. Du aber nicht, entgegnete dieser, froh über das gefundene Fressen.
Der Dichter lässt sich vom Leben ergreifen, die Hausfrau von Biographien, und von Bibliographien der Professor.
Das „Alles fließt“ ist ein schwacher Trost für den, der nur widerwillig mit dem Strom schwimmt.
Wir Depressive, erklärte F. nach einer durchwachten Nacht, schreiben den modernen Abenteuerroman: eine Reise um den Tag in 24 Stunden.
Ein Anblick vollendeter Hoffnungslosigkeit: ein Kind mit dem Gesicht eines Erwachsenen.
Ein Fall von intellektuellem Selbstmord: Der Bücherwurm, der von brennenden Bibliotheken träumt.
Kinder, hervorgegangen aus der Leere und Langeweile ihrer Erzeuger, aus der Flucht voreinander in die Fortpflanzung.
Die meisten Schriftsteller lassen nur Bücher zurück. Die Nützlicheren hinterlassen ein Bedürfnis und dauernde Lücken im Regal einer Leihbibliothek.
Beispiele von déformation professionnelle: Der Metzger wird fleischig, der Professor papieren und der Stubenhocker zu Staub.
Ein Kongress akademischer Eliten versammelt nur Sitzriesen.
Kein philosophisches Genie, das nicht aus einer Hypertrophie herrührte: Des Gehirns bei Kant, der Galle bei Schopenhauer, der Lunge bei Laotse, des Geschlechts bei Bataille und des Herzens bei Kierkegaard.
Kafka war Bürokrat von Beruf, Dichter aus Berufung. Der umgekehrte Fall ist häufiger: Der Schriftsteller, der sich als Schreiberseele entpuppt.
Dieselbe Hand, die selbst befriedigt und von anderen gedrückt wird.
Tsetsefliege: Schutzheilige der Müden.
Die Erotik entfaltet sich zwischen den Stühlen, zum Beispiel zwischen Beichtstuhl und gynäkologischem Stuhl.
Glotz hier keine Löcher in die Luft! sagt der Tatmensch zum Träumer, und schaufelt ihm sein Grab.
So lange an Selbstmord denken, bis sich die Tat selbst erübrigt (Cioran). Auch andersherum: Selbstmord verüben, die ihn nicht genug geübt haben.
Die Forschung sucht in Schuberts syphilitischen Körper nach dem sibyllinischen Ursprung seiner Musik.
Tatmensch ist einer, der dem Träumer rät, sein Leben in die Hand zu nehmen, nachdem er ihm zwei linke Hände bescheinigt hat.
Mein Nessushemd hat ein anderer an. Jeder, der die neueste Mode trägt.
Gott und Mensch haben sich in Europa einvernehmlich und im gläubigen Rest der Welt einseitig getrennt.
Die Wissenschaft, die statt der Götter Gene anruft, gibt sich so geheimnistuerisch wie die Instanz, die sie beerben wollte.
Man erkennt einen Geistesverwandten durch alle Prägungen der Rasse, des Alters und des Geschlechts hindurch, wie das Gesicht eines Mongoloiden.
Der Individualverkehr, der dann im Stau stecken bleibt.
Der Professor unter den Tieren: Der Holzwurm, der nicht flügge werden will.
Jeder borgt vom Künstler, aber keiner will mit ihm tauschen.
Das Pneuma, das in der Recherche von Proust die verlorenen Jahre füllt, haucht ein andrer vor dem Pustekuchen aus.
Transsubstantiation eines Trinkers. Seine Illusionslosigkeit war so ernüchternd, dass man den Wodka in seinem Glas leicht für Wasser hielt.
Es fiele mir nicht schwer, mich auf die Seite der Verlierer zu schlagen, wenn nur die Gewinner Parasiten hätten. Doch leider entkommt den Neidern nicht leicht, ohne sich einen Seelsorger einzuhandeln.
Technik zielt auf die Vereinfachung ihrer Benutzer.
Der Roman in der Schublade ist an eine künftige Leserin adressiert, so wie auch das Konto auf der Samenbank nur von einer Frau eingelöst werden kann.
Provokation ist die kommerzielle Schwundform des Protestes.
Zuerst die Natur, dann die Kultur. Das heißt, wenn anderseits aufgeforstet wird, sollen die Romanciers ruhig wieder episch werden.
Der eingeäscherte Leichnam verweigert die Landnahme, die eine Grablegung bedeutet. Der Nomade unter den Toten.
Das Auto, das zum Sarg wird. Begraben in dem, worin sie sich am lebendigsten fühlten.
Man nimmt den Tod alter Menschen für selbstverständlich und spricht von ihrem Ableben. Als gäbe es für das Skandalöse des Todes eine Altersgrenze und als verwirke, wer sie überschreitet, das Recht auf seinen Titel.
Der neurotische Eros: Schwach genug, um sich gehen zu lassen, aber zu schwach, um sich hinzugeben.
Salomo, dann Sade. Das Hohelied auf die Liebe und sein Untergang in der Drehorgel der sozialen Mechanik. Zwischen den Zeilen der Pornographie das klagende Echo eines jungen Königs.
Kitsch ist das Spielzeug der Erwachsenen für das tote Kind in ihnen.
Die Entwicklungslinie der Wissensgesellschaft verläuft vom altklugen Kind zum puerilen Frühpensionisten.
Urbanitis. Ich habe mich überfressen, ich mag keine Gesichter mehr sehen.
Nach islamischer Auffassung schließen Störche die Seelen der kranken und daheim gebliebenen Pilger ein. Die des Reisenden um des Reisens willen schlummert im Kolibri, diesem Virtuosen des schwebenden Stillstands, jene des Touristen im flugunfähigen Vogel Strauß.
Der Tatmensch nennt als Grund für seinen Ständer stets eine Frau. Dem Träumer genügt der Ständer.
Den Unterschied zum Islam macht nicht der bibelfeste Bischof, sondern der biberlfeste Mönch.
Der lange Friede füllt die Landschaften mit Wohnblocks und die Bücherregale mit Krimis.
Pythagoras, der Begründer der Harmonielehre, verteufelt die Bohne, aber empfiehlt den Verzehr von rohem Kohl, einer anderen Blähungen verursachenden Pflanze. Keine ausgewogene Peristaltik freilich ohne unreine Töne.
Ein Eisbär warnte vor den Folgen der globalen Erwärmung. Immerhin, die Unterschiede schmelzen, sagte der Gletscherfloh.
Den modernen Ablasshandel teilen sich Psychotherapeut und Diätassistentin.
Mir ist der Schriftsteller, der sich die Hände schmutzig macht lieber, als der Intellektuelle mit einwandfreiem Leumund, der die Räuberleiter nimmt.
Zeugen: Pech vögeln.
Das Leben war vielleicht nie wieder so weit wie unter der Himmelscheibe von Nebra, und noch nie so eng wie unter der Satellitenschüssel.
Im österreichischen Wörterbuch kommt nach Vagina vakant und nach Penis pensionsberechtigt.
Ein Schriftsteller beschuldigte einen besseren, er habe von ihm gestohlen. Kein Plagiat, sagte der andere, sondern Mundraub.
Dem Dissidenten seines Fachs begegnet der Professor am liebsten im alphabetischen Verzeichnis einer Dissertation.
Das „Vermehret euch!“ hat mehr Völker auf dem Gewissen, als durch die Hand Onans umgekommen sind.
Sinn des Fortschritts: Wir brauchen immer bessere Teleskope, um den Abstand zu ermessen, der uns vom Goldenen Zeitalter trennt.
Ein Bestsellerautor beklagt öffentlich den Kulturverfall. Ein Symptom, das seine Krankheit sabotiert.
Mein Steckenpferd ist lahm, sagt das Kind, wenn es hinkt. Auftakt zu einer endlosen Serie verunglückter Lieben.
Kommerz und Literaturkommissionen sind heute Skylla und Charybdis für jedes Buch, das nicht totgeboren ist.
Was ist ein Mensch? – Der geplatzte Traum einer Plazenta; ein Schleimbeutel, wenn er es vergisst.
Adam war 130 Jahre alt, als er seinen ersten Sohn zeugte. Daran musste ich denken, als ich las, dass Prostituierte den Samen alter Freier „saure Milch“ nennen.
Die Weisheit Salomos ist bereit, das Kind sterben zu lassen. Die moderne Jurisprudenz erklärt es gleich zum Pflegefall.
Den Wettlauf der Modehäuser bestreiten die Witzfiguren auf der Straße.
Im Global Village wird jeder Globetrotter zum Dorftrottel.
Furchtbare Fruchtbarkeit. Auf den meisten Darstellungen kommentiert Priapos sein Treiben selbst nur mit sardonischem Lachen.
Der indiskrete Leser: Ich vergesse manchmal bei den Schriftstellern, die ich am meisten liebe, dass nicht ich ihre Zeilen geschrieben habe.
Der Aphoristiker braucht einen Satz, um den Moby Dick zu schreiben: „Das Tier, das in einer Träne ertrinkt.“(Lichtenberg)
Die Welt ist zwar keine Scheibe, aber jeder, der einmal über seinen eigenen Tellerrand lugt, ein Kolumbus.
Der Spaßvogel landet einen Volltreffer, wenn sein Schuss nach hinten losgeht.
Die drei Wege zu unseren Ursprüngen: der spirituelle in die Kirche; der wissenschaftliche in den Zoo; der pragmatische ins Bordell.
Intellektuellenmäuler wie alte Türen sind nicht offen; sie schließen nicht.
„Qui fait l´homme, fait le singe.“ (Giorgo Agamben) Gilt auch für den Affen: Sobald er den Menschen nachäfft, wird er affig.
Ohne die zivilisatorische Wirkung der Frau ist Sex nur noch Porno: nicht Feier eines entblößten Körpers, sondern eines utopischen, der mit den Kleidern zugleich seine Blöße abgelegt hat.
Die Sprechstunden des Philosophieprofessors sind die Schweigeminuten der Philosophie.
Unsterbliche Künstler: Der schlechte wird wiedergeboren und der gute wieder ausgegraben.
Kino und Reinkarnation. Der Film, der kein Meisterwerk ist, büßt in seinen Remakes.
Nicht jeder Pessimist ist ein Nostradamus, aber jeder, der weisgesagt haben will, muss vorher schwarz malen.
Im Asyl wartet der Flüchtling auf seine Beförderung zum Touristen.
Kinder kitten ungleiche Lieben und treiben einen Keil in die großen.
Pornographie: Das animal triste bei seiner Sisyphusarbeit.
Wenn der Strom ausfällt, sitzt der businessman mit dem offenen Laptop wieder vor einem leeren Bauchladen.
Verblassen die Begriffe, die der Skeptiker in Gänsefüßchen setzt, erscheint sein eigener Weg wie ein Gänsemarsch auf ihren Spuren.
Showtime in Platos Höhle. Vor seinem bejahrten Publikum wirft der Dickbäuchige den Schatten einer jungen Schwangeren.
Playmates. Man sieht manchmal nicht mehr die Frau vor lauter Brüsten.
Der Vielleser glaubt, dass er mehr für sein Geld bekommt, wenn das Buch dick ist.
Auf Tikopia leben seit Jahrhunderten gleich viele Menschen. Eine Insel Utopia, die sich freilich auch nicht vermehrt.
In der Menge mutiert der Einzelgänger, der kein Laufass ist, zum Amokläufer.
Dem Künstler geht es wie jedem mit der Blutgruppe O: Er gibt allen, aber kann nur von seinesgleichen empfangen.
Eine Kulturgeschichte der Zivilisation: von den Kökkenmöddinger zur Müllkippe.
In der Buchhandlung zwischen neuen Romanen ein Band mit Aphorismen: ein Bonsai gegen die Herrschaft der Baobabs.
Immer unüberhörbarer nichts mehr sagen.



Kurzvita:

René Steininger, geboren am 30. Mai 1970 Paris. Kindheit in Prag und Helsinki. 1988 französisches Baccalaureat in Kuwait. Danach ein Jahr in New York. Von 1989 bis 1997 Studium der Philosophie in Wien. Promotion im Frühjahr 1997 mit einer Arbeit über Nietzsche und die französische Postmoderne. In der Folge in rund einem Dutzend verschiedener Berufe, unter anderem als Sozialarbeiter, Verlagslektor und Übersetzer in Wien und Hamburg tätig. Zwischen 2000 und 2005 Lektor für deutsche Sprache und Literatur in Bukarest und Bratislava. Seit 2005 freiberuflicher Deutschlehrer und Jobcoach in Wien. 2008 erschien rinforzando, Gedichte & Geschichten, im Bucher Verlag, Hohenems.
    
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