Schnipsel

Festnetzsex

Kurzgeschichte von Stefan Loeffler


Die Tunneldurchfahrt ist gekürzt. So steht es zumindest am unteren Bildschirmrand und so blickt man für nur etwa zehn Sekunden in eine schwarze Röhre. Ich glaube, ich bin in der Schweiz. So genau weiß ich das aber nicht, da ich den Anfang dieser visuellen TV-Bahnreise verpasst habe. Das lag am häufigen Programmwechsel. Kurz nach dem Tunnel säumen wieder schäbige Häuser die Strecke, dazwischen Büsche und kleine Gärten. Jede Kurve birgt Neues. Im Großen und Ganzen ist die Sicht auf endlos lange Gleise eher monoton und ermüdend.
Aber ich bin nicht müde. Leider. Sonst säße ich auch nicht um 3.53 Uhr auf dem Sofa im Wohnzimmer. Ich kann nicht schlafen, wieder einmal. Auch in den vergangenen Nächten war so ziemlich genau um 3.30 Uhr Schluss. Also stehe ich auf, setze mich vor den Fernseher und zappe mich durch die deutsche TV-Nacht. Achtung: Dauerwerbesendung.
Zu kaufen gibt es viel: Messersets, Gymnastikgeräte und vor allem Telefonsex. Auf neunlive gibt es zum Beispiel „Reiche Frauen“ und „Scharfe Studentinnen“. Und das alle fünf Minuten: Sende einfach SMS an Biggi. Und preiswert ist es auch: 1,19 Euro in der Minute. Ich schalte den Ton ab, denn unsere Wohnung ist sehr hellhörig. Und die Telefonsex-Mädels preisen sich natürlich stöhnend an und man kann nie wissen, wer in diesem Haus ebenso an seniler Bettflucht leidet und deshalb rhythmisches Krächzen aus unserem Wohnzimmer vernehmen könnte. Das muss ja wirklich nicht sein, dass irgendjemand auf falsche Gedanken kommt. Und schon gar nicht Kerstin, die nebenan schläft und von meinen nächtlichen Ausflügen nie etwas mitbekommt.
Nächstes Programm: Space Night. Urplötzlich befinde ich mich in mehreren Kilometern Höhe und überfliege Botswana, das unter einer leichten Wolkendecke liegt. Die Wolken sehen von hier oben aus wie kleine Schäfchen. Nächstes Programm: Im Shoppingcenter gibt es jetzt weiße Mieder, die sich scheinbar perfekt an die Haut der figurbewussten Frau anschmiegen. Mit so einem Ding kann man sich wohl jede Anmeldung zum Bauch-Beine-Po-Kurs sparen.
Apropos Po. Im nächsten Kanal haben jetzt wieder die Sexygirls der Nacht das Sagen. Bei mir räkeln sie sich lautlos herum: Schicke SMS mit Stichwort Popogeil. Wahnsinn. Ich brauche ein Bier. Als ich aus der Küche zurückkehre, sitzt plötzlich Heinrich Heine auf dem Sofa und murmelt seine „Nachtgedanken“:
"Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht."
Ich beachte ihn nicht, schließlich ist er schon tot. Ich setze mich vor dem Sofa auf den Boden und nehme wieder die Fernbedienung zur Hand. Mal sehen, wo wir gerade bei der Space Night sind: Florida. Auch hier leichte Bewölkung.
Nächstes Programm: Krieg im All auf SuperRTL. Dieses Mal ist es ein Videospiel, an dem man sich als Zuschauer beteiligen kann: „Über neue Waffen und die Funktionsweise wirst du über sms informiert“, steht da. Ich sehne mich nach einem langen Tunnel. „Kommandanten und Kadetten verteidigt die Erde“. Heinrich Heine meint dazu:
"Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine Tränen fließen."
Wir recht er hat. Wir sind jetzt über Taiwan, doch ich zappe weiter. Die geile Amelie wippt erneut mit ihrem Hinterteil und im Shoppingcenter gibt es nun ein komplettes Set zur Glasveredelung mit Flasche, Sprüher und Mikrofasertuch für sage und schreibe 19,99 Euro.
Auf einem Sportsender entblättert sich gerade eine Brunette auf dem Flügel eines Sportflugzeuges. Wie erotisch! Ich drehe mich um zu Heinrich Heine und sage: „Hast du das gesehen?“ Natürlich nicht. Er flüstert:
"Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wäre.
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben."

Lechzen und verderben. Gab es das Nachtprogramm damals schon? Beim Videospiel wird die Lage langsam ernst. „Bestimme deinen Schusswinkel!“ Nächstes Programm: „Heiße w sucht feuchte w...“
Was ist w?
Zapp: Himalaja. Bewölkt. Was sonst? Ohne mich umzudrehen, sage ich: „Sieh mal Heinrich, von oben sieht das alles gleich aus“.
Zapp: Eine Blondine tanzt verführerisch vor einem roten Sportwagen, dahinter wabert blauer Nebel. Ihre sinnlichen Bewegungen erinnern eher an ein balzendes Huhn mit Schmollmund. Wie bescheuert doch ein so genannter Erotiktanz ohne Ton aussieht!
Zapp: Im Shoppingcenter gibt es nun ein Messerset. Für mich ein weiteres Bier. Irgendwo sauen sich gerade drei Polinnen mit Öl ein. Darunter steht: „Heiß und hungrig. Frauen +40“. Es ist alles da. Heinrich Heine seufzt:
"Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land."
Er hat schon wieder Recht. Es ist ein Land mit lauter feschen Mädels. Und es ist so einfach, sie kennen zu lernen: Schicke SMS an Griseldis. Jetzt reicht´s. Wie einsam muss man eigentlich sein, um tatsächlich bei einer dieser Nummern anzurufen, um Festnetz-Sex mit Griseldis zu haben? Ich schalte den Fernseher ab, stehe auf und verabschiede mich von Heinrich, krieche zurück ins Bett, um wenigstens noch ein bisschen Schlaf zu finden.
Heinrich Heine sitzt noch im Wohnzimmer, ich höre ihn flüstern:
"Gottlob! Durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
Und lächelt fort die deutschen Sorgen.“

Gute Nacht.

© Stefan Loeffler (Ulm, 2008)

aus: "Immer ist was"
Dreiunddreißig rein
zufällige Geschichten

Verlag kawe8, 2008, 175 Seiten
ISBN 978-3-9810137-2-6

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