Schnipsel

Lyrische Formen

Eine erotische Geschichte von Klaus Ebner


Genau genommen begann unsere Geschichte mit einem Haiku.
Ein paar Tage vor der geplanten Lesung juckte es mich, meine Nachbarn wachzurütteln und auf die Veranstaltung hinzuweisen, denn vielleicht, fantasierte ich, verirrte sich ja doch jemand Wichtiger in das kleine Café an der Ecke, um sich ein paar Gedichte und Erzählungen anzuhören und mich in Zukunft mit ganz anderen Augen zu sehen.
Für die Ankündigung schien mir die Tafel im Eingangsbereich ideal und so klebte ich neben Namensschildern und Annoncen der umliegenden Handwerker meine bunte Einladung hin, deren Mitte, quasi als kleine Kostprobe, das bewusste Haiku zierte, welches eigentlich deutliche Merkmale der profaneren Senryu-Form trug.
Die drei Zeilen hießen die Augen drängen/sehnsuchtsvoll entflammt die Gier/zu schwülem Lodern, passend zu den bald kommenden Sommertagen, und ich dachte, dass dieser Text auch einem Literaturunkundigen reichen sollte, entweder sein Interesse oder seine Abscheu zu entdecken.

Lidija war mit ihrer Familie im März eingezogen. Ein Ehepaar mit zwei Kindern und ein kroatischer Nachname, wie ich an der Anschlagtafel im Erdgeschoß bald feststellte. Ein paar Tage nach dem Einzug begegnete ich der neuen Hausbewohnerin zum ersten Mal. Die beiden Mädchen stürzten aus dem Aufzug, dessen Tür ich öffnete, und dahinter trat ihre Mutter heraus.
Instinktiv wich ich einen Schritt zurück, erwiderte ihr Nicken mit Gleichem und hielt die Luft an, als ich in ihre Augen blickte. Wir wechselten kein einziges Wort und als sie an mir vorbeischritt und mich mit einem fast verstohlenen Seitenblick maß, drängte sich mir das Gefühl auf, ein leiser Rausch aus Parfum und angedachter Berührung flöge an mir vorbei und drehte meinen Kopf zum Ausgang, wo zuerst die Kinder und dann ihre Mutter hinter der Gebäudekante verschwanden.

Danach verdrängten leidige berufliche Verpflichtungen das Ereignis aus meinem Gedächtnis, doch als ich eine Woche nach dem Anbringen der Einladung vom Einkauf zurückkam, stand Lidija vor dem Aufzug und öffnete. Ich wusste nicht, ob sie die Einladung gelesen hatte, fand jedoch nicht den Mut, sie darauf hinzuweisen. Bisher war noch keine Möglichkeit eines näheren Bekanntwerdens aufgetaucht, und sogar ihren Vornamen hatte ich zufällig aufgeschnappt, als ich nämlich ihr und ihrem Mann – beide in ein Gespräch vertieft – im Hof begegnete; vom Inhalt verstand ich zwar nichts, da sie miteinander immer kroatisch sprachen, aber der Name hatte ganz deutlich herausgeklungen.
Insgeheim überlegte ich, wie ich diese drei Silben in ein kurzes Gedicht verpacken könnte, bis mir auffiel, dass sie noch kein Stockwerk gedrückt hatte, weil sie, auf einen Hinweis von mir wartend, meine Etage nicht kannte. Ich sprudelte heraus, dass ich einen Stock höher wohnte, fühlte meine Wangen erröten und präzisierte, im fünften. Dann fuhren wir los.

Als sie mich anschaute und mit einem leichten slawischen Akzent bemerkte, es fehle der Hinweis auf ihren eigenen Blick, reagierte ich zuerst verdutzt und begriff erst allmählich, dass sie nicht nur den Einladungstext gelesen hatte, sondern ganz genau wusste, ja keinen Moment daran zweifelte, dem Autor persönlich gegenüberzustehen, und dann setzte sie mit einer eigenartig beschwichtigenden Stimme fort, es sei schließlich, und dabei zwinkerte sie, sehr fleischlich. Bevor ich ein Wort erwidern konnte, wandte sie sich ab, machte die Tür auf und stieg aus dem Lift. Beinah erschrocken fuhr ich weiter.
Nachdem ich mich in der Wohnung auf einen Stuhl gesetzt hatte, ohne die Schuhe auszuziehen, resümierte ich das Gehörte und stellte trocken fest, dass sie vom Unterschied zwischen Haiku und Senryu wusste. Warum sie allerdings ihre eigene Person, ihren eigenen Blick in unser Gespräch genommen hatte, diesen in eine Relation zu meinem Gedicht stellte, vermochte ich nicht zu beantworten, ich zog sogar eine sprachliche Ungenauigkeit der Kroatin in Erwägung, doch bei dem Gedanken an Lidijas Blick wurde mir heiß.

Danach kam es eine ganze Weile zu keiner neuerlichen Begegnung; ich hatte ziemlich viel um die Ohren und beschäftigte mich intensiv mit einem neuen Projekt, das schon in der Anfangsphase drohte, meine Zeit zur Gänze aufzusaugen, und kümmerte mich nicht einmal um die Auswahl der Texte, die ich im Café zum Besten geben wollte.
Und eines Tages verließ ich dann, wie gewohnt, die Wohnung, um einen Kunden zu besuchen, stieg in den Aufzug und merkte rasch, dass er wieder einmal die Stockwerke abklapperte, um gemäß seiner gut justierten Steuerung die Wartenden einzuklauben. Genau genommen stieg ich in eine leere Kabine und anschließend folgte ein Zwischenhalt im vierten Stock, bei dem Lidija zustieg.
Im ersten Moment sah sie mich gar nicht, sie trug einen übermäßig angehäuften Wäschekorb vor der Brust und drückte die Taste für den Keller, wo sich auch die allen Hausparteien zugängliche Waschküche befand. Erst als wir hinabfuhren, drehte sie den Kopf schlagartig zu mir und grinste mich an. Sonst nichts. Kein Wort, kein Gruß, lediglich das Erkennen in ihren Augen, dem ich nicht abzulesen wagte, ob ihr das Wiedersehen willkommen oder gar zuwider war.
Und ich, in meiner typischen Verlegenheit, die mich immer dann am Kragen packte und durchschüttelte, wenn ich es am wenigsten brauchte, starrte sie an und schwieg, als wäre mir unter Mordandrohung ein Schweigegelübde auferlegt worden.
Der Stopp im Erdgeschoß ließ uns beide ein paar Zentimeter in die Knie gehen, um den Ruck abzufedern. Bevor ich jedoch hinaussteigen konnte, stellte sie den Korb ab und stieß die Tür auf, um mich vorbeizulassen. Verwundert über die ungewöhnliche – und angesichts der Situation aufwändige – Zuvorkommenheit trat ich vor, musste mich jedoch so knapp an ihr vorbeiwinden, dass ich nicht umhin konnte, mit meinem Gesicht ihren Arm zu berühren, ganz vorsichtig, zaghaft und zurückzuckend, so als wollte ich mich gleichzeitig für die ungehörige Nähe entschuldigen. Für einen Wimpernschlag nur schloss ich die Augen, als der Duft ihres Parfums in meine Nase drang und wie mit einem weichen Handballen über mein Antlitz strich.
Draußen wandte ich mich zurück und glaubte das Spiel eines versteckten Schmunzelns in ihren Mundwinkeln zu erkennen, bevor die Kabinentür zuschlug und mich allein vor dem Lift zurückließ. Tief durchatmend begab ich mich langsam aus dem Flur auf die Straße, während ich noch hörte, wie Lidija im Kellergeschoß die Waschküchentür aufschloss.

Das in meinem Gedächtnis sich allmählich festsetzende Bild ihres Mienenspiels, die unscheinbare Bewegung, ihre Nähe, sogar der Duft, den ich weniger auf ein vielleicht französisches Parfum denn auf die Frau selbst bezog, bannten mein Denken und beeinträchtigten jede Konzentration. Dass mir tagsüber in meinem Projekt dennoch kein grober Fehler unterlief, verdankte ich lediglich der Routine und einer gewissen Fähigkeit, mein Inneres nach außen hin völlig abzuschotten, auch wenn darin gewaltige Stürme tobten.
Jeden Tag hoffte ich auf eine neuerliche Begegnung und ärgerte mich über meine eigene Torheit, wenn ich mit dem Aufzug mehrmals hin- und herfuhr, ohne dass etwas geschah.
Indessen rückte mein Veranstaltungstermin immer näher; die Lesung war für den kommenden Freitagabend angesetzt. So mied ich das Wochenende und konnte darauf hoffen, dass die meisten Zuhörer ihre Arbeitswoche bereits abgeschlossen hatten. Die hintere Stube war reserviert und ein großformatiger Karton, den ich am Nachmittag vorbeibrachte, kündete auf einem vor der Tür platzierten Stuhl vom literarischen Ereignis, in das ich anfänglich sehr große Hoffnungen gesetzt hatte.
Inzwischen war mir natürlich klar geworden, dass dieser Abend meinen schriftstellerischen Ambitionen wohl keinerlei nachhaltigen Erfolg bescherte, allerdings war die alte Erwartung einer neuen gewichen, nämlich der, Lidija im Publikum zu finden. Zu diesem Zweck hatte ich eine ganze Reihe von Gedichten und kurzen Prosatexten mitgebracht, die ich gleichsam allein für sie lesen wollte – obwohl natürlich auch alle andern zuhören würden –; eine verschämte Finte, ihr auf vordergründig unverdächtige Weise etwas von mir mitzuteilen, ihr etwas zu sagen, das auszusprechen ich mich in einer anderen Situation niemals getraut hätte.
Die Reihenfolge der Texte hatte ich sorgfältig zusammengestellt, unter Bedachtnahme auf eine Art inneren Aufbau, den es, vom Chronologischen her betrachtet, gar nicht gab.

Zum angesetzten Beginn waren erst fünf Leute zugegen, zwei Kollegen aus der Firma, einer mit Freundin, sowie ein Ehepaar, das ich nicht kannte. Nachdem ich den Kollegen lautstark ein wenig von meinen nächtlichen Schreiberlebnissen erzählt hatte, stand das Ehepaar auf und verließ den Raum, denn sie hatten, wie ich nun erfuhr, lediglich die falsche Stube betreten.
Im erstem Moment etwas betroffen, lockerte sich meine Stimmung, als nach zehn Minuten mehrere Personen eintrafen – ein paar von ihnen tatsächlich aus dem Wohnhaus – und ich mit der Lesung begann. Lidija war indes nicht erschienen und ich reihte ein paar Texte vor, die ich ursprünglich später oder vielleicht überhaupt nicht präsentieren wollte, um den eigentlichen, den wichtigen Auftritt erst in ihrer Anwesenheit zu gestalten. Ich las ein Gedicht nach dem anderen, zauberte ein paar haarsträubende Grotesken aus dem Ärmel und schenkte so meinem Publikum, wonach ihm der Lachsinn stand.
Allmählich geriet die Auswahl meiner Texte immer konfuser und ich kam regelrecht durcheinander, begann ein zweites Mal eine Kurzgeschichte, die ich bereits vorgetragen hatte, hielt inne, entschuldigte mich mit einem Anflug von Verlegenheit und blätterte ein paar Sekunden still in meinen Manuskripten, inständig darauf hoffend, dass die Tür aufginge und Lidija hereinstolzierte.

Eine halbe Stunde später hatte ich mich damit abgefunden, dass sie nicht kam. Ob ihr das Gedicht auf der Anschlagtafel nicht gut genug schien, der Einladungstext zu wenig griffig formuliert war oder meine verstohlene Begierde Schuld trug – ich wusste es nicht.
Das Vorlesen machte mir keine Freude mehr, ich leierte noch ein paar Texte herunter, las viel zu schnell weiter, wenn die Zuhörer lachten, und reagierte auf abschließende Fragen geradezu mechanisch. Ein voller Reinfall, dachte ich, denn ohne Lidija schien mir der ganze Abend nun völlig sinnlos. Verplemperte Zeit, die ich anders viel besser hätte nutzen können. Mit den Kollegen verbrachte ich noch eine Stunde belanglos plaudernd bei einem Glas Wein, das mir kaum schmeckte, und dann packte ich mein Papier zusammen und trollte mich.

Die kühle Nachtluft tat mir gut; sie hatte etwas Tröstendes. Ich verlangsamte meinen Schritt, um das plötzliche Alleinsein noch etwas zu genießen, denn immerhin lagen zwischen Kaffeehaus und Wohnung bloß zwei Häuserblocks.

Mit der Linken sperrte ich das Haustor auf und schlurfte nachlässig und gedankenverloren zum Lift. Dort allerdings schrak ich zusammen, als ich Lidija antraf. "Hi!", grüßte ich abgehackt und schämte mich im selben Augenblick für mein abgedroschenes Gehabe. Sie sah mich an und sagte ebenfalls "Hi!". Dann wandte sie sich ab.
Als die Kabine ankam, fasste ich rasch an den Griff, damit sie mir nicht wieder zuvorkäme, öffnete die Tür und machte mit dem Kopf eine einladende Geste. Lidija trat einen Schritt auf den Fahrstuhl zu und drehte sich zu mir. Als ihre Hände über meine Arme strichen, den Brustkorb und den Hals berührten – ihr geradezu ubiquitäres Betasten ließ mir kaum Zeit zu begreifen, wie intensiv ich sie überall spürte –, glitten meine Manuskripte zu Boden. Noch im Ansatz, tief einzuatmen, vielleicht sogar zurückzuzucken, spürte ich ihre Lippen auf den meinen, war überrascht, mit welcher Weichheit und doch auch Bestimmtheit sie ihren Kuss einzusetzen wusste, ich empfand einen erregenden Schauer, als unsere Zungenspitzen einander trafen, und vermochte das Ganglicht nur verschwommen wahrzunehmen, als sie ihr Gesicht von dem meinen ganz langsam löste. Dann stieg sie in den Aufzug und die Tür, die ich längst losgelassen hatte, schloss.

Stundenlang lag ich wach, starrte im Dunkeln an die Decke und summte beinah unbewusst eine Melodie, die ich irgendwo aufgeschnappt hatte. In meinem Kopf spielten sich ungeschehene Szenen ab, erträumte Gespräche nahmen ihren Lauf und ich ertappte mich mehrmals dabei, lautstark mitzudiskutieren, obwohl ich ganz allein im Bett war.
Irgendwann knipste ich die Leselampe an, rieb mir die Augenhöhlen mit der Handfläche, glaubte Lidijas Antlitz schemenhaft vor mir zu erkennen und begann den stets bereitliegenden Notizblock zu bekritzeln, zuerst den Blick zu erfassen, der mir nicht mehr aus dem Sinn kam, die Glut der Augen, dann, etwas ruhiger, zwei weitere Zeilen, still und beschaulich, den kommenden Herbst beschwörend: gelbes Blatt auf meiner Hand/ich atme Warten. Das Licht blieb versehentlich angedreht, als ich einschlief.

Auf eine bestimmte Art spitzte sich meine Lage zu; nunmehr war es mir nicht mehr möglich, das Stiegenhaus zu betreten, ohne Herzklopfen zu bekommen, aber ein Herzklopfen, dessen Intensität mich ernsthaft an meiner physiologischen Gesundheit zweifeln ließ.
In der Wohnung zitterte ich rastlos herum, stapfte von einem Zimmer ins andere, ohne zu wissen, was ich dort eigentlich wollte, und begann mehrere Bücher zu lesen, bloß um sie nach zwei Seiten wieder wegzulegen, weil ich es nicht schaffte, mich auch nur auf einen einzigen Absatz zu konzentrieren. Irgendwann riss mir der Geduldsfaden und ich sprang vom Stuhl hoch, schnappte mir im Vorzimmer den Schlüssel von der Kommode, verließ die Wohnung und rief den Aufzug. Im Vierten stieg ich aus, um ein paar Sekunden lang wie ein Dodel vor dem Fahrstuhl zu verharren. Dann machte ich ein paar Schritte auf ihre Tür zu, drehte mich wieder um und ging zurück.
Ich konnte unmöglich hier bleiben, quasi zur Beobachtung der Korridorgeschehnisse, einfach so tun, wenn mich jemand ertappte, als ginge mich das alles nichts an oder als hätte ich mich in unserem – noch dazu gut überschaubaren – Stiegenhaus verirrt!
Seufzend erwog ich, meinem seit langem schlummernden Wunsch Folge zu leisten und an die Tür zu klopfen, doch augenblicklich fiel mir ein: Was tun, wenn ihr Mann öffnete? Hm, ich könnte fragen, ob sie den Waschküchenschlüssel früher abgeben könnten, allerdings war ich erst in zwei Tagen dran und das wussten andere Hausparteien von der Tabelle, die im Erdgeschoß aushing. Besser ich borgte mir etwas Zucker aus oder Salz oder ein Glas Milch. Irgendetwas, nur um meiner Anwesenheit einen plausiblen Grund zu verschaffen.

Abermals trat ich zur Tür, schüttelte den Kopf und ließ die Hand, die ich auf den Knauf gelegt hatte, wieder sinken. Nichts wollte mir gelingen und ich spielte mit dem Gedanken, wieder die eigene Wohnung aufzusuchen und den Fernseher anzustellen, um mich abzulenken.
Ein zweites Mal hob ich den Arm, setzte zum Klopfen an und zögerte. Eine plötzliche Verlegenheit schien mir den Hals zuzuschnüren und ich zweifelte daran, ein vernünftiges Wort herauszubringen, wenn es gefordert war. Ohne zu pochen begann ich zurückzuweichen; indes sprang nun die Tür auf, eine Hand fuhr heraus, packte mich an der Schulter und zog mich so rasch in die Wohnung, dass ich über die Schwelle stolperte und mich an der Wand oder einem Bücherregal festhalten wollte, um nicht gänzlich zu straucheln, und von Lidija regelrecht aufgefangen wurde. Ich schmiegte mein Gesicht an ihren Hals und der Duft ihres Körpers, der mir seit unserer ersten Begegnung vertraut war, umgab mich mit einem Gefühl der Geborgenheit.
Kein einziges Wort war vonnöten, als wir uns gegenseitig zu entkleiden begannen, dabei den Weg zum Schlafzimmer einschlugen, aber bloß bis zur Wohnzimmercouch gelangten. Einen Moment lang dachte ich an ihre Kinder, doch vertraute ich darauf, dass Lidija Mann und Kinder außer Haus wusste und diese zumindest für die nächste Zeit nicht auftauchen würden.

Vielleicht lag es an der sich einstellenden Regelmäßigkeit, dass ich keinem meiner Freunde davon erzählte. Vordergründige Banalitäten wuchsen indes zu regelrechten Eskapaden aus, überhaupt wenn sie an meinen bisherigen Lebensverhältnissen gemessen wurden.
Beinah jeden Tag besuchte ich Lidija und lebte eine Leidenschaft aus, die sie in mir geweckt hatte und die mir selbst völlig fremd war. So schlich sich eine Unwirklichkeit in unsere Zweisamkeit, die ich für mich behalten wollte, weil sie mir den fragilen Charakter unseres Tuns vor Augen führte und unaufhörlich bewies, wie flüchtig jene Stunden waren, die uns beide aus unserem Leben herausrissen und so etwas wie ein paralleles Universum schufen, in dem nur sie und ich existierten.
Die Projekte in der Firma gingen mir zu dieser Zeit besonders leicht von der Hand, ich legte eine ungewohnte verbale Frechheit an den Tag, die den Kunden wider Erwarten imponierte und ein paar zusätzliche Erfolge brachte. Wurde ich auf meine neu gewonnene Heiterkeit angesprochen, gelang es mir mühelos, mich auf kleine literarische Erfolge auszureden, die zwar jeder Grundlage entbehrten, aber nicht falsifizierbar waren.

Gewiss hörte ich nicht auf, an diesen immerzu erhofften literarischen Erfolgen zu basteln. In den Stunden zwischen Projektarbeit und Lidijas heimlicher Zärtlichkeit tüftelte ich Zukunftskonzepte aus, schrieb Erzählungen und sammelte Notizen für einen Roman, den ich eines Tages zu schreiben gedachte.
Ich kontaktierte Verlage und sprach Lokalbesitzer und Veranstalter auf die Möglichkeit an, weitere Autorenlesungen zu halten. Die Einladung zur nächsten Lesung hatte ich immerhin schon skizziert, allerdings fehlten ein paar lyrische Zeilen.
Als mir der Inhaber einer zentrumsnahen Bar zusagte, der bekannterweise sein kulturelles Interesse mit permanenten Aquarellausstellungen und musikalischen Auftritten zur Schau stellte, holte ich den Entwurf heraus, setzte mich an den Tisch und schrieb nach kurzem Nachdenken mit großen Tintenlettern lächelnd dazu: die Kerze glitzert/überm Sessel hängt dein Strumpf/der Schnee liegt draußen.

© Klaus Ebner (Wien)


(auch veröffentlicht im Kurzgeschichtenband "Lose", Edition Nova 2007)

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