Schnipsel

Sabina Lorenz: "Die Fremde ist ein Ort"

- zeitgenössiche Lyrik

Auf Gleis 11 fährt ein
Schon der weiße Einband mit der pink-violett unterlegten Unterschrift von Sabina Lorenz' Debütband "Die Fremde ist ein Ort" sticht aus der Reihe der Lyrikedition 2000 angenehm farbig hervor und gibt ein erstes Vorgefühl von etwas Außergewöhnlichem. Der Leser befindet sich bereits beim ersten Gedicht des Kapitels [aInts] inmitten der Breitengrade nordöstlicher Hemisphäre und wird konfrontiert mit einer neuartigen Optik: hier wird spiegelverkehrt gedichtet!
Der Band beginnt prosaisch in der Wahrnehmung eines Kindes, das durch eine Glastüre hindurch Autos zählt und über Erdbälle reflektiert; der Band endet prosaisch in der Wahrnehmung eines Kindes, das beim Sinnieren über den "Gott im Gras" - der in allem wohnt - sein pantheistisches Weltbild hinterfragt. Zwischendurch entwickeln manche Gedichte einen atemberaubend prosaischen Drive.
Beschworen wird in den 37 teils mehrteiligen Dichtungen die Tristesse städtischen Lebens. Werbe-Ikonen und große Markennamen dominieren die vielfältigen Himmel der Großstadt und werden als "bunte Fahnen" vorgeführt, städtischer Raum mutiert zur Legowelt.
   
Begegnungen finden statt - auf Rolltreppen, "nabellose(n) Straßen", in nächtlichen Bahnhöfen, an Gleis 11: "An Bahnsteigkanten stehen keine Häuser". Gleise und Entgleisungen der Sprache werden neu definiert. Satzfragmentierung mündet vielfach in Neologismen oder grammatikalische Reduktion, Satzstummel wie "So du" bilden Formen der Verstümmelung ab. Sätze werden in Partikel zerlegt.
Die Autorin lässt in überraschenden Worten wie "Häutig", "Unheim beträumt", "Stummtage" ihre ganz eigene, ein wenig noch unerprobte Stimme erklingen. Ein Weltbild birst: Splitter in der Brust, "das / Mädchen wirbelt auf der Mauer im Kreis und tanzt / Scherben zu Splitter. Wie aus einem Brausekopf" sprudelt Blut; Blutwurst, Schweiß und Piercing entfesseln eine ungewohnte Ästhetik, die sich auch an Ekliges wagt. "Fieberblasen, krustige rote Grenzen auf der Haut" wechseln ab mit zertretenen Marienkäfern und aufgespießten Kellerasseln. Tiere, besonders Vögel spielen eine dominierende Rolle: Vogelschwärme, Gänse, "lackfedrige" Krähen, geschwätzige Elstern. "Da nisten in den Dachrinnen Tauben", eine Möwe schreit "wie ein gefrorenes Saxophon".
Die Autorin erschafft neuartige Bilder wie einen "Suppenhimmel" oder "wichsende Wölfe" als ungestüme Antwort auf bukolische Schäferdichtung vergangener Jahrhunderte. Wie ein Tier werden auch Himmelskörper gefüttert, z. B. der ausgefranste Mond. Städtische Räume werden zur inneren Ersatzlandschaft für ein Zuhause, das manches lyrische Ich in Sabina Lorenz' Gedichten vermisst. "Ich esse Träume / auf Bahnsteigkanten und frage, was das ist: Zuhause".
Die Suche nach den eigenen Koordinaten vollzieht sich auch in der Spuren-Suche nach der eigenen Sprache, Muttersprache. Das Ich der Texte sucht sich selbst: "die Flügel gespreizt [Iç] und [Iç] und [Iç]. Das Hier". An anderer Stelle wird ein "Sie" kurzerhand ausgestrichen. Der Leser muss sich in den Ordnungszahlen einer ungewohnten, stets von neuem verblüffenden Sprache immer wieder neu zurechtfinden.
Sabina Lorenz entfaltet ihre ganz eigene Sprachwelt, die unter die Haut geht - und auch die Haut wird immer wieder Gegenstand von Sabina Lorenz' Dichtung. Versteckt in dieser teils desillusionierenden Welt eines morbiden Stadtkosmos entstehen kurze Liebesgedichte mit hermetischer Schönheit, die bezaubern: "ein leichter Wind über unseren Köpfen. Ob es ein / unordentlicher Kuss. So sei es. Hätte ich gewusst / dass ich dich suchte. Und: Es war so ein Tag, an dem ich die Liebe / aus dem Fenster warf".
Die Dichterin sagt, sie schreibe die Gedichte, die sie gerne lesen würde. Es ist ihr gelungen, der zeitgenössischen Dichtung eine neue unerhörte Stimme zu verleihen.



Rezension Claude Kupfer (Arkadien)

"Die Fremde ist ein Ort" von Sabina Lorenz
Buch & Media 2007, 76 S.
lyrikedition 2000

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