Begegnungen finden statt - auf Rolltreppen, "nabellose(n)
Straßen", in nächtlichen Bahnhöfen, an Gleis
11: "An Bahnsteigkanten stehen keine Häuser". Gleise
und Entgleisungen der Sprache werden neu definiert.
Satzfragmentierung mündet vielfach in Neologismen oder
grammatikalische Reduktion, Satzstummel wie "So du"
bilden Formen der Verstümmelung ab. Sätze werden in
Partikel zerlegt.
Die Autorin lässt in überraschenden
Worten wie "Häutig", "Unheim
beträumt", "Stummtage" ihre ganz eigene, ein
wenig noch unerprobte Stimme erklingen. Ein Weltbild birst:
Splitter in der Brust, "das / Mädchen wirbelt auf der
Mauer im Kreis und tanzt / Scherben zu Splitter. Wie aus einem
Brausekopf" sprudelt Blut; Blutwurst, Schweiß und
Piercing entfesseln eine ungewohnte Ästhetik, die sich auch an
Ekliges wagt. "Fieberblasen, krustige rote Grenzen auf der
Haut" wechseln ab mit zertretenen Marienkäfern und
aufgespießten Kellerasseln. Tiere, besonders Vögel
spielen eine dominierende Rolle: Vogelschwärme, Gänse,
"lackfedrige" Krähen, geschwätzige Elstern.
"Da nisten in den Dachrinnen Tauben", eine Möwe
schreit "wie ein gefrorenes Saxophon".
Die Autorin
erschafft neuartige Bilder wie einen "Suppenhimmel" oder
"wichsende Wölfe" als ungestüme Antwort auf
bukolische Schäferdichtung vergangener Jahrhunderte. Wie ein
Tier werden auch Himmelskörper gefüttert, z. B. der
ausgefranste Mond. Städtische Räume werden zur inneren
Ersatzlandschaft für ein Zuhause, das manches lyrische Ich in
Sabina Lorenz' Gedichten vermisst. "Ich esse Träume /
auf Bahnsteigkanten und frage, was das ist: Zuhause".
Die
Suche nach den eigenen Koordinaten vollzieht sich auch in der
Spuren-Suche nach der eigenen Sprache, Muttersprache. Das Ich der
Texte sucht sich selbst: "die Flügel gespreizt [Iç]
und [Iç] und [Iç]. Das Hier". An anderer Stelle wird
ein "Sie" kurzerhand ausgestrichen. Der Leser muss sich
in den Ordnungszahlen einer ungewohnten, stets von neuem
verblüffenden Sprache immer wieder neu zurechtfinden.
Sabina
Lorenz entfaltet ihre ganz eigene Sprachwelt, die unter die Haut geht -
und auch die Haut wird immer wieder Gegenstand von Sabina
Lorenz' Dichtung. Versteckt in dieser teils desillusionierenden
Welt eines morbiden Stadtkosmos entstehen kurze Liebesgedichte mit
hermetischer Schönheit, die bezaubern: "ein leichter Wind
über unseren Köpfen. Ob es ein / unordentlicher Kuss. So
sei es. Hätte ich gewusst / dass ich dich suchte. Und: Es war
so ein Tag, an dem ich die Liebe / aus dem Fenster warf".
Die
Dichterin sagt, sie schreibe die Gedichte, die sie gerne lesen
würde. Es ist ihr gelungen, der zeitgenössischen Dichtung
eine neue unerhörte Stimme zu verleihen.
Rezension Claude Kupfer (Arkadien)
"Die Fremde ist ein Ort" von Sabina Lorenz
Buch & Media 2007, 76 S.
lyrikedition 2000
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