Geh jetzt bitte!
von Carsten Brinzing
Sie sagte: „Das ist mir noch nie passiert.“
„Was?“ „Dass mich einer um vier Uhr morgens
rausschmeißt.“
Ich schwieg. Sie stand auf, schaute mich an. „Kann ich nicht
hierbleiben?“
„Ich kann jetzt nicht einfach so neben dir liegen.“ Sie
nahm ihre Jacke. „Wenn du auch nur ein bisschen was für
mich empfinden würdest, dann würdest du dich nicht so
verhalten! “
Ich biss die Zähne aufeinander. Sie drehte sich um und ging
mit schnellen Schritten durch den Flur. Ich sprang auf, lief ihr
nach, fasste ihren Arm. „Inga, wir sollten uns nicht mehr
sehen. Wir tun uns gegenseitig nur weh.“
Sie sah mir in die Augen. Fragend zuerst, dann wütend, zog
ihren Arm weg, riss die Tür auf, polterte die Treppe
hinunter.
Zwei Tage früher. Wir saßen auf dem Marheinekenplatz.
Sie hatte mich angerufen und gesagt, sie wolle mit mir reden. Sie
hatte Oliven und Fladenbrot gekauft. Es war warm. Wir setzten uns
auf eine Bank, aßen die Oliven, rissen Stücke von dem
Fladenbrot ab.
Hinter uns spielten Kinder. Spaziergänger schlenderten vorbei.
Über den Dächern schoben sich dunkle Wolkenballen
zusammen.
Sie legte den Kopf gegen meine Schulter. „Das darf ich doch
noch, oder?“ Ich strich ihr die Haare aus der Stirn. Sie
sagte: „Ich brauch das jetzt.“ Wind kam auf, wirbelte
Staub und Blätter empor.
„Hör mal, ich hab das akzeptiert, was du gesagt hast.
Ich hab das kapiert. Und auch wenn ich nochmal morgens bei dir
aufwache, ich akzeptier das.“ „Is schon ok.“ Sie
hob den Kopf, lächelte und schmiegte sich wieder an mich. Es
begann leicht zu regnen. Wir stiegen ins Auto. Sie legte eine
Kassette ein.
„Das Lied passt zu uns. Fast. Das Ende nicht“.
„Warum nicht?“ „Es hat sich anders entwickelt
zwischen uns.“
Ein wunderschöner Abend. Die Jalousien vor den Cafés
flatterten in leuchtendem Rot und Orange. Kurz nach sechs.
Feierabendverkehr. Es ging nur schrittweise vorwärts. Jedesmal
wenn sie schaltete, berührten sich wie zufällig unsere
Hände. Die Ampeln wechselten die Farben. Wir saßen fest.
Menschen drängten sich zwischen den Autos hindurch, die
Scheibenwischer schoben sich leise quietschend über die
Scheibe. Sie spulte die Cassette vor und zurück, suchte ein
Lied, das sie mir vorspielen wollte, aber sie fand es nicht. Nach
einiger Zeit löste sich der Stau auf. Sie fuhr die Strecke wie
im Schlaf. Wir saßen still nebeneinander. Plötzlich sagte
sie: „Scheiße! Wir sind ja gleich da. Ich hätte
mich verfahren sollen.“
Sie sah mich verschmitzt aus dem Augenwinkel an, konzentrierte sich
wieder auf die Straße.
„Mach uns noch eine Zigarette an.“ Ich zog eine
Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an, steckte sie
zwischen ihre Lippen. Sie nahm einige Züge, hielt mir die
Zigarette hin, bog in die Stralauer Allee ein, dann nach links,
über den Rudolfplatz und die Moderssohn-Brücke. Einzelne
Sonnenstrahlen brachen durch die Wolken, schimmerten metallen auf
der Kugel des Fernsehturms.
„Ich hätte mich wirklich verfahren sollen.“ Sie
hielt vor meinem Haus. Wir sahen uns an. Sie schlang die Arme um
meinen Hals, drückte sich an mich. Ihre Augen schimmerten
feucht.
„Machs gut.“ Ich gab ihr einen Kuss und stieg aus.
Eine Woche später klingelte das Telefon. Inga. „Wie
gehts dir?“ „Gut. Und dir?“ „Auch
gut.“
Nach einer kurzen Pause sagte sie: „Das heißt,
eigentlich gehts mir nicht so gut. Ziemlich beschissen eigentlich,
wenn ich so drüber nachdenke. Ich hab den ganzen Tag versucht,
was zu machen, aber ich hab nichts auf die Reihe gebracht. Total
bescheuert!“ Ein Augenblick Stille. „Aber ich hab
aufgehört zu kiffen.“ „Und die Tabletten?“
Sie zögerte. „Nur noch ‘ne halbe, zum
Einschlafen.“ „Gut.“ Wieder Schweigen.
„Hör mal, wollen wir uns heute abend treffen?“
„Ja, gerne. Wo denn?“ „Um zwölf am
Hackeschen Markt?“ „Ok. Dann bis später.“
Ein warmer Wind ließ die Kerzen auf den Tischen der Cafés
flackern, Stimmen hallten über den Platz, um die Bäume
herum waren einige Fackeln aufgestellt. Müde ließ ich
mich auf einen der drehbaren Plastikstühle neben den
Fahrradständern fallen.
Kurz darauf klingelte mein Handy. Ich hielt es ans Ohr, aber
niemand meldete sich. Lachend kam sie auf mich zugelaufen und
rief:
„Ich wollte nur sehen, wie du reagierst.“ Sie warf ihre
Zigarette auf den Boden und fiel mir um den Hals.
„Wartest du schon lang?“ „Nein, ich bin eben erst
gekommen.“
Sie hakte sich bei mir unter und wir schlenderten die Straße
entlang.
„Sag mal, was läuft da eigentlich gerade zwischen
uns?“
„Was meinst du?“ „Na ja.“
Ich überlegte. „Was genau willst du eigentlich?“
„Ich will heute nach bei dir schlafen“, antwortete sie
und grinste schelmisch.
Wir stiegen die Stufen zum High End 54 hinauf. Bunte Graffiti,
kleine Poster und Kritzeleien an den Wänden.
Unsere Schritte hallten in dem leeren Treppenhaus. Stimmen und
Musik drangen aus der Bar. Es war voll. Ganz hinten in der Ecke ein
freier Sessel. Wir drängten uns zwischen den vielen Menschen
hindurch, quetschten uns nebeneinander auf den breiten
Ledersitz.
Sie sagte: „Ich muss dir was erzählen“ und dann
redete sie von Bianca, mit der sie auf die Schule gegangen war,
aber mit der sie sich nichts mehr zu sagen hatte, von einem Freund,
der ein wichtiges Fax nicht, wie versprochen, für sie
abgeschickt hatte, von den vielen Kursen an der Uni, davon dass sie
total pleite war, dass ihr Terminkalender immer völlig
chaotisch sei und ein elektronischer eigentlich viel besser, dass
sie den Freund, der das Fax nicht für sie abgeschickt hatte,
kräftig einheizen ...“
„Hey“, unterbrach ich sie, „wollen wir nicht
lieber über uns reden?“ Sie sah mich an. „Du hast
recht.“ „Was willst du trinken?“ „Eine
Cola.“
Ich ging zur Bar, bestellte eine Cola und ein Bier, setzte mich
neben sie und wir stießen an. Ich ließ den Blick durch
den Raum schweifen.
„Was überlegst du?“ „Was wir noch so machen
sollen heute Abend.“
„Hey, ich will keinen Korb kriegen!“ Ihr Ton war
scherzhaft und gleichzeitig gereizt. Vielleicht auch
ängstlich. Ich wusste nicht genau, worauf sie
hinauswollte.
„Du willst wirklich mit zu mir kommen?“ „Nochmal
frag ich dich nicht.“
Wir sahen uns an. „Ok.“ Sie lächelte, stand auf
und ging zur Toilette. „Die machen gleich zu“, sagte
sie, als sie zurückkam.
„Aber wir wollen ja sowieso gehen.“ Der Barkeeper
schaltete ein grelles Licht an, ich trank mein Bier aus, wir nahmen
unsere Jacken und gingen zum Auto.
„Also? Wohin fahren wir?“ „Zu mir?“
„Okay“, sagte sie langgezogen und ließ den Motor
an.
Nach einer Weile fragte sie: „Macht’s dir was aus, wenn
ich bei dir einen Joint rauche?“
„Du hast doch gesagt, du hast aufgehört.“
„Ja. Aber ich hab von einem Freund so gutes Zeug
bekommen.“
Ich seufzte. „Schau mal, aus Marokko, ist total
genial.“ Sie griff nach einem Korb auf dem Rücksitz.
„Lass stecken.“
„Du hältst mich jetzt für inkonsequent,
oder?“
Ich sah aus dem Fenster.
In meiner Wohnung zog sie sich die Stiefel aus, ließ sich
aufs Bett fallen und blieb liegen.
Ich setzte mich neben sie, sie zog meinen Arm auf ihren Bauch und
sagte: „Ich will einfach nur so einschlafen.“
Wir lagen eine Weile still da. Ich fuhr mit der Hand über ihre
Hüfte, ihren Bauch, ihre Brüste, sie schob meine Hand
weg, hielt sie fest.
„Was willst du eigentlich genau von mir?“
„Hab ich doch schon gesagt. Ich will einfach nur hier neben
dir einschlafen. Du bist nicht einer von denen, die deswegen sauer
sind, oder?“
Ich holte Luft und sie sagte: „Ich hab das schon akzeptiert,
dass du mich nicht lange ertragen kannst.“ „Ich hab
gesagt, dass ich mir im Moment keine Beziehung vorstellen
kann.“ „Ok, das hab ich verstanden.“ „Was
machen wir dann hier?“ „Lass uns doch einfach nur
kuscheln.“
Ich stand auf, öffnete das Fenster. Sie kroch unter die Decke,
ich löschte das Licht, legte mich neben sie, versuchte
einzuschlafen. Sie atmete tief und ruhig, eine ganze Zeit lang,
dann zuckte sie plötzlich zusammen, fuhr hoch und starrte mich
erschrocken an. „Was ist los?“ „Weiß
nicht.“
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und sank zurück aufs
Kissen. Ich legte die Hand auf ihren Kopf, ließ die Finger
über ihren Hals und die Schulter gleiten, sie griff nach
meiner Hand, krallte ihre Fingernägel in meine Haut.
„Was hast du?“ „Nichts“, antwortete sie.
Sie lag auf dem Rücken. Ein Arm über der Decke. Ihre
Lippen leicht geöffnet.
„Hör mal, ich begehre dich. Und ich wünsche mir,
dass das gegenseitig ist.“
Sie stützte sich auf, suchte nach ihren Zigaretten.
„Jetzt bleib doch mal hier.“ Ich hielt sie fest. Beugte
mich über sie, legte meine Lippen auf ihre, griff nach ihrer
Hand. Sie drehte sich zur Seite.
„Ich will jetzt was rauchen.“ „Warum ausgerechnet
jetzt?“ „Ich will jetzt einfach.“ „Das du
doch auch noch nachher machen.“ „Wonach?“
„Später.“
Ich zog sie auf mich, ihre Beine warm zwischen meinen. „Es
ist verdammt gut, dich zu spüren.“ „Ok, das
weiß ich jetzt.“ Ich drückte sie an mich, strich
über ihren Po, ihre Schenkel.
„Du willst nur ficken!“ „Und du? Was willst du?
Weshalb bist du hergekommen?“
Sie griff nach der Zigarettenschachtel, ich packte sie am
Handgelenk, hielt sie fest.
„Du hast vorher gesagt, du willst bei mir schlafen und du
akzeptierst, dass ich im Moment keine Beziehung will. Warum bist du
also hergekommen, verdammt nochmal?!“
„Ich wollte eigentlich auch. Aber jetzt bin ich
totmüde.“
Ich ließ ihre Hand los und warf mich aufs Kissen.
„Lass mich die Zigarette rauchen und dann schläfst du
mit mir.“ „Dann schläfst DU MIT MIR, was ist das
denn jetzt für’n Spruch?!“ „Schlafen WIR
miteinander.“
Sie machte ihre Zigarette an, der Tabak knisterte trocken, sie
blies den Rauch über meinen Kopf hinweg ins Dunkel.
„Ich will nicht deine Bums-Freundin werden.“ Sie
kicherte. „Das hab ich aus diesem Tarantino ...“
„Du weißt doch überhaupt nicht was du willst!
Hättest du dir vielleicht mal vorher überlegen
können, worauf das rausläuft, wenn wir hier
nebeneinanderliegen?“
„Das hab ich aus diesem Tarentino-Fim. Aus ...“ Sie
überlegte. „Aus Jackie Brown. Hast du den
gesehen?“
Ich reagierte nicht. „Da wirft doch der eine seinem Freund
vor, er hätte seine Bums-Freundin erschossen.“
„Hör mal, du bestimmst selber, was du bist. Ich mach
dich zu überhaupt nichts. Okay? Und mit wem du vögelst
ist einzig und allein deine Sache!“ Sie legte die Zigarette
in den Ascher, drehte sich zur Seite.
„Scheiße! Ich bring mich immer in Situationen, wo ich
mich als Opfer fühle.“
„Als Opfer von was? Hab ich dich gezwungen mitzukommen? Hab
ich dir was vorgemacht? Was willst du von mir, verdammt
nochmal?!“
Die Spitze der Zigarette glimmte rot im Halbdunkel. Nach einer
Weile legte sie den Kopf auf meine Brust, strich mit den
Fingerspitzen über meinen Bauch.
Ich öffnete vorsichtig ihren BH, knetete ihren Rücken und
genoss es, dass ihr Atem schneller ging.
Ich schob ihre Beine auseinander, drückte ihren Schritt auf
meinen, sie seufzte leise, nahm den Rhythmus meiner Bewegungen auf,
aber plötzlich zuckte etwas durch ihren Körper, sie
rollte sich blitzschnell zusammen wie ein Reptil, das in Deckung
geht. Dann lag sie steif und reglos da. Das Gesicht gegen meinen
Bauch gepresst.
„Ich kann jetzt nicht mit dir schlafen. Ich kenne mich selbst
zu wenig.“
„Was ist los? Willst du mich nicht?“ „Ich will
schon. Aber es gibt zwei Arten von Begehren, körperlich und
gefühlsmäßig. Ich will deine Gefühle. Das
andere kann ich mir auch an jeder Straßenecke
holen!“
„Und wenn ich mit dir schlafe, habe ich keine Gefühle
für dich oder was?“
„Das spüre ich.“
„Blödsinn! Du machst mir hier doch was vor. Du tust so,
als wolltest du eine schöne Nacht mit mir haben, und dann
stellst du dich wie tot und wirfst mir vor, ich wollte nur
über dich herfallen. Das ist echt das Letzte!“
„Es war eine Schwäche von mir, dass ich dich angerufen
habe. Und ich hasse mich dafür.“
„Wenn du das so siehst, dann ist es besser, wenn du jetzt
gehst.“
Sie setzte sich auf, sah mich kurz an, griff nach ihrem Pullover.
„Inga?“ „Ja?“ Ich stützte mich auf
einen Arm, sah sie an. „Ich glaube, wir gehen völlig
aneinander vorbei.“
„Das glaub ich auch. Du hast überhaupt keine
Gefühle für mich.“
„Das stimmt doch überhaupt nicht. Du spielst hier ein
falsches Spiel und das weißt du!“
„Nein, weiß ich nicht.“ Ich sprang auf, machte
einen Schritt über sie hinweg und stieg aus dem Bett. Sie
streckte einen Arm nach mir aus.
„Hey, gehst DU jetzt?“ „Nein, ich geh nur ins
Bad.“
Ich schrubbte wie besessen auf meinen Zähnen herum, als
könnte ich so meine Wut loswerden.
Als ich zurückkam, hatte sie sich angezogen, saß auf dem
Bett, drehte die Zigarettenschachtel zwischen den Fingern. Ich
setzte mich neben sie.
Dann sagte ich: „Es hat keinen Sinn. Geh jetzt
bitte!“ © Carsten Brinzing (2001)
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