Schnipsel

Eine Lebensgeschichte

von Mark Heywinkel

Sie trafen sich jedes Jahr zum Geburtstag von Marie, die vier besten Freundinnen aus der längst vergangenen Schulzeit: Agathe, Anna, Claudia und sie selbst. Marie lebte nun schon seit mehr als dreißig Jahren im Ruhrgebiet, nachdem sie vor fast vierzig Jahren Klaus kennen gelernt hatte und gegen den Willen ihrer bayrisch-stämmigen Eltern nach Nordrhein-Westfalen gezogen war. Jetzt war sie eine Witwe von fünfundfünfzig Jahren - mein Gott, wie die Zeit doch verging - und lud jedes Jahr am sechsundzwanzigsten siebten ihre alten Bekannten zu sich ein.
Nicht, dass es ihr besonders viel Spaß machte, die alten Klatschweiber - wie sie selbst sie oft bezeichnete - um sich zu haben. Denn im Gegensatz zu ihr hatten die anderen drei Frauen ein angenehmes und aufregendes Leben geführt, in dem ihnen einfach alles geglückt und gelungen war und sie wussten jedes Jahr aufs Neue von perfekten Reisen und einfach fantastischen Familienfesten zu erzählen.
Es war nicht der Neid, der Marie so ärgerlich werden ließ, wenn ihre Freundinnen von dem letzten Karibikaufenthalt erzählten, sondern der mangelnde Respekt der Damen vor der Tatsache, dass Marie weder einen Mann, noch eine Familie besaß. So war sie von Anfang an bei jedem Gespräch außen vor und wenn sie dann direkt von Claudia angesprochen wurde, wie sie denn ihr letztes Jahr "genossen" hätte, waren die Antworten immer traurig peinlich. Was konnte man auch schon großartiges erzählen, wenn man im fünften Stock eines nur von alten Leuten bewohnten Hauses lebte, die sich einmal in der Woche in einem extra dafür angelegten Rommé-Zimmer trafen, um das eigentlich für die Enkelkinder gedachte Taschengeld zu verspielen. Marie hatte nicht einmal Enkel.
Reisen ins Ausland unternahm sie keine, denn ihre Rente ließ solcherlei Aktivitäten unter strahlendem Himmel und brennender Sonne nicht zu. Marie dachte nicht gerne darüber nach, aber im Grunde hatte sie ihr Leben falsch gelebt, Grundlegende Fehler hatte sie gemacht, ohne sich über die späteren Konsequenzen Gedanken zu machen.
"Und meiner war letztes Jahr in den vereinigten Staaten, zum Schüleraustausch." - "Das war doch sicher aufregend, oder, Claudia? Und wie hat es ihm da gefallen?"
Aufregend war der Aufenthalt für Claudias sechzehnjährigen Enkel Tim sicher gewesen und gefallen hatte es ihm bestimmt auch gut. Nur Claudia hatte die gesamte Aktion, auch wenn sie keinen Deut daran beteiligt gewesen war, bestimmt mehr gefallen und sie für sich ausgenutzt. Also zog sie wie jedes Jahr ihre typische Show ab, setzte sich in Positur, nahm das Glas Sekt in die Hand und sprach mit feierlichen Worten ein Wohl aus.
"Auf meinen Jungen, der sich da so tapfer geschlagen hat. Denn eine Essenskultur haben die Amerikaner ja überhaupt nicht."
Womit wir gleich beim nächsten Thema wären: Dem Essen. Was auch immer Marie sich ausdachte, wie lange sie auch in der Küche dafür stand und wie hübsch und perfekt es auch dekoriert war, begeistert waren ihre drei Freundinnen in keinem Fall. Es schmeckte vielleicht, doch man wusste natürlich über andere kulinarische Genüsse aus internationalen Gasthäusern und Küchen zu erzählen, die manche Speisen einfach besser zubereiteten als jede Hausfrau es je könnte. Aber Vorsicht war geboten, wenn ein bestimmter italienischer Koch in Rom oder ein gewisser Franzose in Marseille den Kochlöffel ohne Rücksicht auf Kalorien zu heftig schwang. Auf das Gewicht wurde bei Reisen immer geachtet und wenn nicht, dann musste man sich von den privaten - und furchtbar jungen - Fitnesstrainern in den eigenen Hallen wieder in Form bringen lassen. Und am liebsten im Schlafzimmer, wenn eure so hochbeschäftigten Ehemänner mal wieder nicht zu Hause sind, fügte Marie oft in Gedanken hinzu.
Manchmal fragte sie sich wirklich, warum sie ihre Freundinnen gerade zu sich einlud und sich nicht selbst einladen ließ; schließlich war sie es ja, die Geburtstag feierte. Claudia, Anna (die zusätzlich aus gehobenem Hause kam) und Agathe waren reich, sie war arm. Die drei Damen hatten ihre eigenen Köche, Marie musste den ganzen Tag selbst vorm Kochtopf verbringen. Aber wie dem auch sei, es waren ihre einzigen Freunde und diese waren besser als gar keine.
Es war halb neun, als sie das letzte Mal auf die Armbanduhr - vermutlich das einzig Kostbare, das sie besaß - blickte und aus ihren Gedanken aufschreckte. Marie besann sich wieder darauf, die letzten Unterteller auf den bunt geschmückten Tisch zu stellen und holte dann die Girlanden aus dem alten Holzschrank im Flur der Wohnung. Nachdem sie die Verpackung entfernt hatte, blies sie einmal kräftig und über der gläsernen Lampe über dem gedeckten Tisch breitete sich ein Feuerwerk aus blauen, gelben, grünen und roten Luftschlangen aus. Surrend wickelten sie sich um die Lampe, blieben hängen und rollten ihre Enden bis kurz über die soeben angezündeten Kerzen aus. Marie war sichtlich mit ihrer Arbeit zufrieden. Es war zwar nicht so elegant dekoriert wie in einem erstklassigen Restaurant, aber einmal im Jahr mussten sich die drei Damen wohl damit zufrieden geben.
Mit zunehmendem Alter war es ihr zur Gewohnheit geworden, jede Tat noch einmal genau zu inspizieren und Teller, Dekoration, Besteck und Kerzen zurechtzurücken, auch wenn es eigentlich nichts mehr zu rücken gab. Nachdem sie diese für junge Augen nervtötende Arbeit vollbracht und wieder auf die Uhr gesehen hatte, stieg eine mulmige Unruhe in ihr auf.
Sonst war es eigentlich immer so gewesen, dass Claudia, Anna und Agathe viel zu früh bei ihr eintrafen und sich übermäßig lange über schon genannte Dinge unterhielten. Doch nun schien sich das Interesse nach dergleichen Gesprächen geändert zu haben, denn die Frauen waren schon lange überfällig. Bei Marie war es eigentlich nicht üblich, dass sie ungeduldig wurde, doch die Tatsache, dass sie ihren Geburtstag vollkommen allein verbringen musste, bereitete ihr fast eine panische Angst. Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass sie Ostern und Weihnachten allein verbringen musste, doch zu ihrem Jahrestag waren immer ihre Freundinnen gekommen; und das sollte sich an diesem Abend um Himmelswillen nicht ändern.
Da fiel ihr wie Schuppen von den Augen, dass sie die Handynummer von Agathe notiert hatte, als sie das letzte Mal mit ihr telefoniert hatte. Irgendwo musste der kleine, beige Zettel doch noch zu finden sein, dachte sie, als sie die obersten Schubladen ihres Nachttischchens durchforstete. Dann hatte sie ihn, stand aus der Hocke wieder auf, fasste sich blitzschnell mit der einen Hand an den plötzlich schmerzenden Rücken und tappte leise jammernd zum Telefon im Flur. Das Gerät war schon sehr alt, doch immerhin erfüllte es seinen Zweck. Marie wählte zwischen Zettel und Telefon hin und her blickend die wahnsinnig lange Handynummer. Ein Rufzeichen ertönte. Dann nahm jemand am anderen Ende ab.
"Agathe hier", mehr brauchte diese nicht zu sagen, denn dies war ihr ganz privates Handy, dessen Nummer nur ihre Freunde kannten. "Wer spricht denn dort?"
"Agathe? Hier ist Marie."
"Ach, ja, Marie."
Es rauschte im Hintergrund und die Stimmen von Claudia und Anna klangen schwach aus dem Hörer des Telefons hervor. Sie saßen wohl im Auto und waren auf dem Weg zu ihr.
"Wir sitzen hier im Auto und sind auf dem Weg zu dir", erklärte Agathe mit ihrer tiefen Stimme, die sie den Zigaretten zu verdanken hatte.
"Wann seid ihr in etwa da?"
Agathe befragte wieder die Damen im Hintergrund.
"Wann sind wir wohl bei Marie?"
Die Antwort kam von Claudia, die einzige mit Führerschein: "Dauert nicht mehr lange. Eine halbe Stunde vielleicht."
"Hast du gehört, Marie?"
"Ja, ja, ich habe es verstanden."
Das Rauschen wurde immer stärker. Dann war Agathes Stimme weg und ein langer Fiepton war zu hören. Die Leitung war zusammengebrochen und Marie legte etwas konsterniert auf. Die Drei mussten durch einen Tunnel gefahren sein. Wie sie diese kleinen piepsenden Handys hasste. Zu allem nur Erdenklichen konnte man sie gebrauchen, nur zum Telefonieren nicht.
Sie überlegte sich, die Nummer ein zweites Mal zu wählen, aber das machte keinen Sinn. Sie wusste ja jetzt, wann die Frauen bei ihr eintreffen würden. Plötzlich klingelte es unerwartet an der Tür. Marie öffnete und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes, in dem sie sofort den jüngsten Bewohner des Hauses und ihren Nachbarn erkannte.
"Abend, Frau Zecher", grüßte er leicht angetrunken. "Haben Sie vielleicht noch ein paar Kerzen, die Sie nicht brauchen und uns leihen könnten?" Marie warf einen erstaunten Blick über die Schulter und nickte dann langsam. Aus der Wohnung gegenüber war laute Musik zu hören und Licht flackerte in allen Regenbogenfarben über die Türschwelle.
Da muss eine riesige Party im Gange sein, dachte Marie überrascht, hätte sie doch die Musik hören müssen. Sie kramte ein paar Kerzen hervor, die sie eigentlich nicht gebrauchen konnte und reichte sie dem jungen Mann, der sie dankend entgegen nahm.
"Ich danke Ihnen, Frau Zecher."
Dann musterte er Marie und blickte sich in ihrer Wohnung um und auch wenn er nur einen kleinen Flur und einen Teil des Schlafzimmers einsehen konnte, erkannte er, dass sie allein war. Anscheinend fühlte sich der Nachbar nach der großzügigen Kerzenspende dazu verpflichtet, sie zu seiner eigenen Party einzuladen.
"Wenn Sie Lust haben, Frau Zecher, kommen Sie doch zu uns herüber. Meine Eltern sind auch da. Es ist also nicht so, dass nur junge Leute da herumlaufen."
Er lächelte.
"Also wenn Sie möchten: Sie sind herzlich willkommen!"
Marie schüttelte freundlich lächelnd den Kopf und machte dazu eine Handbewegung - ebenfalls eine Angewohnheit, die mit dem Älterwerden gekommen war.
"Nein, danke sehr. Ich habe heute Geburtstag und meine Freundinnen aus Bayern werden gleich bei mir sein, Sie kommen jedes Jahr und feiern meinen Tag mit mir zusammen."
Sie lächelte wieder. Der junge Nachbar nickte verständnisvoll, blickte dann auf die Kerzen und bedankte sich ein weiteres Mal.
"Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Geburtstag!"
Er drehte sich um und kehrte in seine Wohnung zurück.
Gerade als Marie die Tür schloss und überlegte, was denn nun noch zu tun sei, klingelte das Telefon. Schnell nahm sie den Hörer ab und bekam gerade noch mit, wie Agathe zu irgendjemandem Macht doch bitte die Tür auf sagte. In diesem Moment kam Marie der Gedanke, dass die Drei wohl doch nicht auf dem Weg zu ihr waren. Agathe schwieg eine kurze Zeit.
"Marie? Bist du es?"
"Ja, bin ich", antwortete sie leise, erschrocken über die neue Erkenntnis. Im Hintergrund rauschte es wieder, aber diesmal glaubte sie ganz fest, Stimmen zu hören. Stimmen die nicht Anna und Claudia gehörten.
"Hör mal, ich glaube wir schaffen es nicht mehr rechtzeitig. Hier ist ein riesengroßer Stau auf der Autobahn. Wie wäre es, wenn wir und nächsten Monat einmal treffen, ja? Marie, bist du noch dran?"
Marie schluckte hastig.
"Ja, ja, ich bin noch dran. Ich überlege nur gerade, dass es nächsten Monat etwas schlecht ist."
Agathe schwieg am anderen Ende der Leitung.
"Wie bitte?", fragte sie überrascht. "Was ist denn nächsten Monat so wichtiges?"
"Ach, das habe ich dir noch gar nicht erzählt?", sprach Marie so normal wie möglich. "Ich fahre doch in Urlaub."
Zuerst war sie über die eigene Lüge so erstaunt, dass ihr mit einem Mal schwindelig wurde. Dann beruhigte sie sich und lauschte der Stimme Agathes. Jetzt fand diese wohl gar keine Worte mehr. Sie murmelte irgendetwas, dann wurde ihre Stimme wieder lauter.
"In Urlaub, aber das wusste ich ja gar nicht."
"Ja, tut mir leid, Agathe, dass ich es dir nicht schon früher gesagt habe, Aber jetzt muss ich Schluss machen, die Gäste sind schon da und ich habe noch allerlei zu tun."
Bei diesen Worten machte sie sich so lang wie es nur ging, erreichte mit den Fingerspitzen ihre Wohnungstür und zog sie auf. Laute Musik quoll zu ihr hinein und durchflutete jeden einzelnen Raum. Das konnte Agathe einfach nicht entgehen.
"Mein Gott", rief sie fast. "Da muss ja einiges bei dir los sein, Marie!" "Ja, und wie. Schade, dass ihr nicht kommen könnt. Grüß die anderen von mir, wir telefonieren mal wieder."
Schnell legte sie den Hörer auf und schloss die Augen. Sie wartete noch einige Augenblicke ab, dann sah sie sich verzweifelt um. Was sollte sie jetzt machen? Ihren Geburtstag vollkommen allein verbringen? Auf jeden Fall würde sie nicht traurig darüber sein, ihre Freundinnen an diesem Abend nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich war es besser, sie kein weiteres Mal zu sich einzuladen; bestimmt war es besser. Überraschender Weise stand Marie nur kurze Zeit unentschlossen in ihrem Flur. Sie drehte sich um, schnappte sich ihren Wohnungsschlüssel und trat vor die Tür.
Es war gerade neun Uhr, da läutete sie an die Tür ihres Nachbarn. Anna, Claudia und Agathe konnten ihr gestohlen bleiben. Dieses Jahr und die nächsten auch. Marie spielte mit dem Gedanken, in einem Monat tatsächlich in den Urlaub zu fahren. Dann musste sie halt die nächsten Jahre sparen oder - warum war ihr dieser Gedanke nicht schon eher gekommen - sich eine Arbeit suchen. Lag es nicht bei ihr, wie ihr Leben ablief? Sie musste nur den Mut haben, es zu ändern!
Der junge Mann von vorhin öffnete ihr die Tür und bat sie lächelnd herein.
"Haben Sie es sich doch noch anders überlegt, Frau Zecher. Bitte kommen Sie herein. Sie sind zwar nicht zu früh. Aber zu spät ganz gewiss auch nicht!

© Mark Heywinkel, Bielefeld 2003

Mit dieser Geschichte wurde der damals 16-jährige Mark Heywinkel Preisträger beim 25. Wettbewerb "Jugend schreibt". - Mehr zu und von ihm auf seiner Autoren-Homepage
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