Schnipsel

Himmelfahrt

Eine Geschichte von Wolfgang Ratz

Als ich die Haustür öffnete und meinen Fuß auf den Gehsteig setzen wollte, bestätigten sich meine Befürchtungen. Das Haus hatte sich vom Boden gelöst und schwebte in einer geringen Höhe von kaum zehn Metern über der Straße. Angesichts der stabilen Bauweise unseres Hauses und in Anbetracht der herrschenden Windstille war die Lage keineswegs bedrohlich. Allerdings empfand ich sie als ärgerlich, weil es keinen Weg gab, die Distanz zur Straße auf ungefährliche Weise zu überwinden.
Peinlich begann die Situation zu werden, da Passanten stehenblieben und belustigte Blicke auf unser Haus warfen. Wenn ich auch schon von ähnlichen Fällen gehört hatte, so gereichte derlei Aufsehen in einer Kleinstadt doch niemand zur Ehre. Auch war mir bewußt, daß mich meine Frau für das exzentrische Verhalten des Hauses verantwortlich machen würde. Dem Himmel war Dank, hatte sie sich nach schläfriger Verabschiedung meiner Wenigkeit auf die andere Seite gedreht und war wieder eingeschlafen. Die sanften Bewegungen, die mich schon die ganze Nacht beschäftigt hatten, schienen ihren Schlaf noch gefördert zu haben.
Da rührte sich plötzlich ein Luftzug, die Geranien erzitterten kaum wahrnehmbar. Ich blickte besorgt aus dem Fenster. Noch schien die Trägheit des Hauses dem schwachen Wind zu widerstehen, doch ein Blick zum regennassen Himmel zeigte mir turbulente Schwaden in höheren Regionen und da begann auch schon in Erdnähe der Luftzug aufzufrischen. Ich klammerte mich mit beiden Händen ans Fensterbrett, bis meine Knöchel und Adern hervortraten. Den Glotzern auf der Straße allerdings bemühte ich mich, ein arrogantes, gleichgültiges Gesicht zu zeigen.
Doch alle Selbstbeherrschung wurde zur Farce, als sich die Masse des Hauses nahezu unmerklich in Bewegung setzte. Für mich genügte ein geringfügig verschobener Winkel in meinem Panorama, um des Verhängnisses gewahr zu werden. Und bald ging ein Beben durch das Gemäuer, das keinen Zweifel zuließ. Ans Fensterbrett geklammert starrte ich auf das Heer der Neugierigen, die unter uns vorbeiglitten. Als das Haus über den Hauptplatz gondelte, den Maibaum köpfte und das Postamt touchierte, kam Gendarmerie gerannt. Wild gestikulierend forderte sie zum Anhalten auf, was mich ein säuerliches Lächeln kostete. In Gedanken überschlug ich bereits die entstandenen und noch zu erwartenden Schäden und es überkam mich heiß und kalt, da ich mich der unbezahlten Versicherungsprämie erinnerte.
Schon vernahm ich die vorwurfsvolle rasch näherkommende Stimme meiner Frau und wandte mich um. Die Schlafzimmertür flog auf, meine Frau stand auf der Schwelle und ihr Medusenhaupt ließ mich erstarren. Doch bei genauerer Betrachtung galten ihre blutunterlaufenen Blicke nicht mir sondern dem Fenster hinter mir, in dem sich der Kirchturm erstaunlich schnell heranzoomte. Der Aufprall erfolgte in Zeitlupe und war nicht weiter bemerkenswert. Das Haus schob sich einfach an die Stelle des Turms, der frustriert auf den Kirchplatz donnerte und balancierte schwankend auf den Trümmern des Kirchendachs. Mir war klar, daß die Stunde der Wahrheit gekommen war. Ich sprang ohne zu Zögern in den bloßgelegten Dachstuhl, fand eine Stiege und stand wenige Minuten später auf sicherem Boden.

Als ich umringt von wütenden aber ratlosen Menschen meinen Blick auf die Kirche richtete, löste sich das Haus mit schwereloser Eleganz von dem verwüsteten Tempel und strebte dem Himmel entgegen. Auch das Gezeter meiner Frau konnte den bei aller Extravaganz harmonischen Eindruck nicht stören, zumal es sich ebenfalls entfernte und schon lange nicht mehr zu vernehmen war, als das Haus in die Wolkendecke eintrat und verschwand.


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