Schnipsel

Türkische Impressionen

ein Reisegedicht-Zyklus von Michael Zoch

Im Herbst 2009 war der Lyriker Michael Zoch vom türkisch-deutschen Literaturverein "Aksit Kültür" nach Ürkmez (bei Izmir) eingeladen worden, um im Rahmen eines Kulturaustauschprogramms einen Poesie-Workshop zu leiten. Während seines Arbeitsaufenthalts schrieb er einen 9-teiligen Gedichtzyklus als kleinen, sehr persönlichen "Reisebericht" mit seinen Impressionen und Reflexionen auf diese uns immer noch so fremde Kultur.


Kaçak

3 stunden flug 40 stunden ohne schlaf oder umgekehrt und dann samos
direkt vor der nase verschleiert und RAGEND vor allem und du hälst
hof mit dir selbst und deinen napalmgedanken und du trinkst
hochprozentige träume aus den nadelstreifenaugen des zerschossenen
kapuzinerhimmels und löscht die brennenden wälder am rand der
betäubung mit kalkbleichen tränen und kosmischem speichel und der
kreissägenwind hat dich eben erst aus dem ärmel gezogen wie ein letztes
kreuz ass gezinkt in der untersten ecke und du bist trotzdem ein fall fär
die klaffende sprechblasensonne und trotzdem die einzige wahrheit
inmitten der kiesel und und du fühlst dich balistisch und steinbrüchen
gleich und tauchst auf den grund deiner dreistesten schatten meer
im meer geronnen zu ranken
flüchtig

16.09.2009



Ürkmez - Doğanbey

du bist der schaumkronenspalter und das grunzende meer verpaßt dir die
urärgste ölung und das glück klebt wie pech an deinen salzfüßen und in der
angeketteteten bucht sitzt eine junge türkin auf einer alternden bank aus
verkohlendem licht und sie hat liebeskummer oder migräne und ihre
schönheit schwappt rückwärts deine beine hinauf und unter der haut der
dämmerung schimmert das kreischen des himmels hervor und die nacht
erwacht wie ein schwarzgelber uterus mit ach und krach und dornen
gespickt die sterne sein wollen und drüben am ufer gesten der andacht
graviert in die steinerne wange der schlafenden zeit und auf deinen knien
ein bündel vergessener träume aus schmelzendem fleisch und in deinen
adern die farben des raumes und das gierige pochen der sprachlosen welt
einmal schon untergegangen noch einmal nicht

20.09.2009



Iyi Bayramlar

du bist wieder betrunken vom anblick der insel die nackt ist zur feier
des tages und du schlürfst horizonte aus miesmuschelschalen und es qualmt
auf dem ausgrabungshügel am rande des dorfes wo die ziegen purzelbäume
schlagen und die palmen sich die beine in den bauch stehen und darauf
warten dass die flut sie erlöst mit getrommelten küssen und die
humuswolken gackern wie gabelschwanzmöwen auf spanischer fliege und
du fühlst dich als würdest du das universum stören beim morgendlichen
klanggebären mit deinem auf das meer hinausgeglotze und du schreibst dir
gebete hinter die ohren um ja keinen strauch zu vergessen
sammelst versprengte sekunden in einer löchrigen konservenbüchse später
damit eine wand zu besprühen im vieten stock der alltagsseele ab heute
blau in blau gehalten
23.09.2009



Alsancak

ein goldener reißverschluß öffnet den blick auf den orange-blauen raum
und mittendrin schwindel erregende mädchen mit überirdischen gesten
wie silberfäden ins antlitz der kernstadt gestickt und nur durch kommas
getrennt von deiner zusammengeschusterten melancholie und die bettelnde
zigeunerin mit ihrem tausendjährigen kind sieht aus wie gandhi mit
hängenden brüsten und die reki-lady vor der kunstgalerie ist eine der 18
hübschesten frauen des viertels und deine fließgeschwindigkeit ihr
gegenüber orientiert sich am blutfluß der knallengen gassen und der
schwarzhaarige engel im geringelten waffenscheinmini eckt salzgebäck
knabbernd mit der stirn an dein entblättertes nirgends-sein an und du
kannst dir nicht vorstellen dass sie telefoniert oder teigtaschen backt und
du bist puls an puls mit dem reinsten geheimnis der eine wunde
honigtropfen auf den marmorlidern der schamroten nacht
02.10.2009



Efkar Dört (Alman Versiyonu)

gesichter wehen vorüber von den im stich gelassenen blumen hinter dem
zaun der gedankengebäude und in dir braut sich die bronzene stille
zusammen und du meißelst deine ungläubigkeit in das ungeborene gras im
rhythmus der tuschelnden wellen die brautschleier tragen aus
sonnengewebe und atatürks töchter dem halbmond entsprungen wie
hallende vetos befächern mit kirschblütenflügeln dein rundum zerklüftetes
flammengehirn und du bist kaum anders als das wasser und fluchst und
zischst dir gelenkig dein dasein zurecht inmitten getrockneter
wildaprikosen und die ferngesteuerte schöne am tisch gegenüber gewandet
in schlohweißes schweigen und gottesbeweise rasselt dich nieder mit 5
fach gefalteten stechapfelblicken poliert und geschliffen am grenzstein der
kläffenden zeit
15.10.2009



Özledim

du bist der knutschlippenblütler mit brummendem schädel und die
gottesanbeterinnen kriechen in beschwörungen gekleidet die grunzende
nacht herab und der himmel über den schwarzen oliven gibt sich
marktschreierisch klassisch mit seinen eingestanzten geigen und die
zitronenmelisse mit heiligenschein pathetisch geballt zur besamung und du
hockst bewahrt vor den 45 augen der tolldreisten felsen geduckt und zum
hechtsprung bereit im bauch der veranda und die tische brechen zusammen
unter der last des gesagten und die fliegen tanzen pogo und den zypressen
stockt der atem und du glaubst immer noch an ein türkisches mädchen
2000 meilen im kränkelnden norden das schürfwunden züchtet und
schlösser aus brandblasen baut
16.10.2009



Sonbahar

zitronen im rinnstein und die luft um die ecke riecht nach frisch
geangeltem fisch und sich balgenden tiefdruckgebieten und du bekämpfst
deinen herbst ganz privat mit hastig gedrechselten erstschlaggedanken und
die orientalische graumalerei virtuos kredenzt auf der klaviatur des
quadratischen kreises verdreht dir den kopf und den längst schon
verdorbenen magen und du möchtest mit niemandem ärger außer vielleicht
mit dir selbst und du schlenderst gegen den sturm und das knurren und
heulen der welkenden dinge den ausgekugelten strand entlang zu den
zertretenen spiegeln am eingang der sommerruinen und du wickelst
dein herz um den baumstumpf im sog des beurlaubten meeres
triffst zwei lustlos sich streitende möwen mit einem einzigen stein gen
wasser geworfen den schrei zu verscheuchen der grad aus deiner kehle
wuchs
01.11.2009



Söyledim

deine schönste ist noch nicht geboren aus dem volk der gestrandeten
halbmondbeschwörer und dein tropisches naturell spielt dir wieder mal
streiche und du bist der einzig utopische wildwuchs im zentrum der
kopftuchgalaxis die deshalb anscheinend seit stunden gesperrt ist für
weiblichen durchgangsverkehr und du stiefelst die hauptstraße hinunter
am regen vorbei und hinter dir flüstern die schnurbartdompteure und es
knackt und knirscht in deinen runzelstirnfalten wo die seidenen blicke der
springmäuse nisten und die orangenhaut der wolken spannt sich stramm
um deinen nacken und du würdest gern gläserne brüste bewohnen statt wie
ein abgeholztes echo in windschiefen träumen zu hausen und hast seit
jahrzehnten nicht geweint außer bei winnetou 3 und von türkischen
zwiebeln
03.11.2009



Güzelbahçe

die erde bebt nicht mehr seit du da bist und das kleine beschauliche meer
begrüßt dich mit einem schulterklopfen wenn du morgens die stechpalmen
fütterst mit markigen sprüchen und käfer betrachtend den märtyrer spielst
und du bist der springende punkt im auge des achselzuckenden wassers
und deine hände riechen nach frühlingsgefühlen und du bummelst die
straße der blauen bordsteinkanten hinauf zu den meditierenden hügeln die
dich mit applaus empfangen und einem akribisch entworfenen grinsen und
das goldene blut der gemeuchelten stiernackensonne schmiegt sich wie
eine fruchtbarkeitskette ins decoltee des benachbarten himmels und du
versuchst das wesen des schrotts zu ergründen getürmt scheinbar achtlos
neben die durchhaltelandschaft verfugt mit erkaltetem schweiß und
plötzlich breitbeinig vor dir die brücke ins viertel der 600 möbelgeschäfte
und auf dem mittelstreifen ein schlafender hund und du fühlst dich wie eine
versteckte pointe im rücken des abends aus notwehr erzählt
09.11.2009



© Michael Zoch (Ürkmez/ Izmir - 2009)

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• Kurzportrait der Kulturinitiative "Aksit Kültür" (PDF)





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