Schnipsel

Stephen King - "Atlantis"

Eine Besprechung von Dieter Löckener


Der neue Nachbar ist schon seltsam, reibt sich ständig die Augäpfel und bezahlt den jungen Bobby dafür, dass er Ausschau hält, nach niederen Männer, gefährlich und durch und durch böse.
Die essen blutige Steaks, trinken Martinis in gelben Mänteln und weissen Schuhen. Sie fahren einen lebendig wirkenden grossen violetten Wagen, hängen Verkaufskarten falschrum an Supermarktpinwände, fertigen Anschläge zu entlaufenen Haustieren. Wenn sie näher kommen, sind in der Stadt Himmel und Hölle Spiele zu sehen, mit dazu gemalten Sternen und Monden, außerdem hängen Kinderdrachenschwänze an Stromleitungen.
Ted, der Nachbar liest Gedanken und kann diese Fähigkeit durch Berührung auch an Bobby weitergeben, denn er ist ein außerirdischer Zerbrecher, dazu folgt sicher irgendwann eine Fortsetzung.
Später fällt dann noch ein komplettes Flohmarktarsenal vom Himmel (der Beweis, dass ich bis zum Ende gelesen habe), einschließlich eines Aquariums, in dem noch Fische schwammen.
Genug des Blödsinns, King hat gemerkt, dass der wahre Horror im wirklichen Leben spielt und macht in Atlantis die Auswirkungen einer Kinderfreundschaft über Jahrzehnte hinweg zum hochinteressanten Thema.
Alles beginnt 1960, es ist die Zeit der Platters, Paul Anka, Freddy Cannon, West Side Story und Frank-Sinatra-Hüte, wird fortgesetzt 1966 mit Donovans Atlantis, Friedenszeichen, Vietnamkriegstrauma als Mittelpunkt und den damit untrennbar verbundenen ersten Demos und endet 1999.
Es ist die Story von Bobby, Sully und Carol und deren Peinigern in Gestalt von Harry und Willie. Willie und Kumpel halten Carol fest, Harry klatscht mit seinem Baseballschläger brutal auf Carol, hört sich an wie ein Schlag auf halbaufgetauten Braten und der blutjunge Bobby, der die Verletzte findet, wächst über sich hinaus und trägt sie, wie Superman, zu Ted, der die verhauene Schulter richtet. Wenig später mischt Bobby, die halbe Portion, den großen Übeltäter kräftig auf.
Nachdem Ted unfreiwillig von den niederen Männer zum Zerbrechen auf seinen Heimatplaneten zurückgebracht wurde, geht's weiter mit einem College im Heartsfieber, in dieser Sucht gehen Karrieren unter wie damals Atlantis. Carol wird Mitglied der MSF, der militanten Studenten für den Frieden, deren Bomben sich allerdings gar nicht friedlich aufführen. Willie rettet im Vietmamkrieg Sullys Leben, tut Busse, denn die Sache mit Carol tut ihm von Herzen leid.

Ein wenig Humor kommt auf, wenn in der Kantine nicht gegessene Würste mit Parisern überzogen in die Küche zurückgeschickt werden oder wenn in der Ed Sullivan Show wohl auf den Fingern gepfiffen werden darf, aber nicht an der Pfeife gefingert.

Insgesamt gesehen ist es schade, dass King, wohl weil es seine Fans erwarten, beim Aufarbeiten der Sechziger überflüssigerweise auch noch Außerirdische mit ins Buch nimmt. Schon bei "Das Bild" war sein Horror genau dann am Allerfeinsten, wenn er sich in der Realität aufhielt, trat die Dame erst durchs Bild, war Gelegenheit zur Abkühlung, sich den Schweiss von der Stirn zu wischen.
Trotzdem ist "Atlantis" ein fesselndes und lesenswertes Experiment, auch wenn sich King, wie er selbst zugibt, hinsichtlich der Chronologie einige Freiheiten rausgenommen hat, was erklärt, wie die revolutionäre MC5-LP "Kick Out The Jams" schon Jahre vor ihrer Veröffentlichung aus dem Radio dröhnen konnte.

Heyne Verlag 1999
591 Seiten
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