Kreisläufe
Meditative Betrachtung von Jochen Wehrmann
Manchmal wäre ich gerne ein
Vogelfutter. Das hört sich jetzt vielleicht eigenartig an, aber
manchmal wäre ich wirklich gerne ein Vogelfutter. Ich sitze in
meinem Büro und schaue den Vögeln dabei zu, wie sie sich im
Winter auf das stürzen, was ich gerne wäre. Sie schwirren
um das Vogelhäuschen, streiten sich, putzen sich, fressen und
fliegen davon. Statt zu arbeiten fliege ich mit. Egal wohin,
Hauptsache nach oben, als Sonnenblumenkern vielleicht oder als
Erdnuss – ganz egal. Ich fliege also mit, immer in der
Gewissheit, dass ich nicht das bleibe, was ich bin, sondern dass ich
bald, sehr bald sogar, ein Teil von diesem Vogel sein werde. Ich kann
mir natürlich nicht raussuchen, welcher Teil, gerne aber wäre
ich ein Stück Auge, oder besser noch ein bisschen Gehirn. Ein
Stück vom Spatzenhirn – ein klitzekleiner Eiweißklumpen
als Informationsempfänger für das, was uns Menschen, bei
allen Vorzügen, die wir sonst auch haben mögen, immer
verwährt geblieben ist – dem Gefühl des Fliegens. Dem
Gefühl des Fliegens mit dem eigenen Körper. Und so lasse
ich mich also in beschriebener Manier im Magen dieses Vogels durch
die Lüfte schaukeln, während die Säfte des Werdens und
Vergehens anfangen an mir zu nagen. Das geht bei Vögeln sehr
schnell. Und so werde ich also in meine Einzelteile zerlegt, fein
säuberlich sortiert und anschließend nach Belieben da
eingesetzt, wo ich gerade gebraucht werde. Ich bin jetzt ein Stück
Eiweiß und ich habe Glück. Genau da, wo das
Gleichgewichtszentrum meines Gastgebers sitzt, sind gerade
Wartungsarbeiten im Gange – und man kann mich gut gebrauchen.
Kurz darauf sitze ich in der Schaltzentrale meines Spatzenhirns und
kann mein Glück noch gar nicht fassen. Von dem einfachen
Sonnenblumenkern zum Entscheidungsträger aufgestiegen nehme ich
das Ruder in die Hand. Noch etwas ungeschickt, weil unerfahren,
fliege ich die ersten Manöver: Kurve links, Kurve rechts, rauf,
runter, hin und her – wunderbar, die Welt gehört mir. Ich
lass ihn fliegen, meinen Spatz – fliegen was das Zeug hält,
den ganzen Tag, ohne zu fressen, ohne sich um alles andere zu
kümmern. Alle Meldungen von Herz (erschöpft), Magen (leer),
Muskeln (schlaff) werden ignoriert - jetzt wird geflogen!!. Man kann
sich denken, wie das enden wird. Die Notsysteme, die in der
Hierarchie noch ein ganzes Stück über mir stehen, drehen
mir schließlich doch den Saft ab. Erschöpft, leer und
schlaff falle ich mehr auf einen Ast, als dass ich darauf lande. So
und jetzt? Erst mal ausruhen, aber nicht zu lange, die Reserven sind
aufgebraucht. Ich brauche dringend Futter. Und das gibt’s ein
ganzes Stück weit entfernt – also los – angetrieben
vom Hungerzentrum breite ich meine Flügel aus. Ein letztes Mal,
denn weit komme ich nicht. Zu tief, zu kraftlos, zu unkonzentriert
und: zu knapp über der Katze, in deren Magen ich mich kurz
darauf blutverschmiert wiederfinde. In geschmeidigen Wellenbewegungen
treibe ich auf der Blutsuppe und mag mir gar nicht ausmalen, wo ich
hier Verwendung finden werde. In einer Muskelfaser vielleicht, oder
schlimmer noch, in der Schwanzspitze – oh Gott – ich mag
gar nicht daran denken. Aber ich habe Glück: ich lande wieder im
Gehirn – genau da, wo alle für die Fortpflanzung zuständig
sind. Jetzt weiß ich auch, dass ich in einem Kater gelandet
bin, denn alles dreht sich plötzlich nur noch um eins: Miezen.
Die wiederum sind nicht einfach zu kriegen und neigen dazu, sehr
knapp vor einem heran eilenden Auto über die Straße zu
laufen. So knapp, dass es nur für einen reicht, zumal ich und
mein Kater alles andere als herannahende Autos im Kopf haben. Kurz
und gut, es tut einen ordentlichen Rums und es wird plötzlich
sehr hell. Mit geöffneter Schädeldecke liegen wir da, und
es dauert nicht lange, bis die ersten Krähen am Unfallort
eintreffen. Ich überlege mir noch, welche von denen wohl auf
mich losgehen wird, da genehmigt sich die größte und
stärkste ein Stück vom Besten, wenn es schon mal so offen
daliegt. Schon spüre ich sie wieder, die ordnende Kraft, wie
sie aus einem Chaos von Molekülen einen funktionierendes
Miteinander organisiert, in dem ich jetzt wiederum meinen kleinen
Teil dazu beitrage. Krähen sind schlauer als Spatzen, Krähen
sind auch schlauer als Katzen. Wer aufmerksam durch die Welt fährt
wird feststellen, dass so gut wie nie eine tote Krähe am
Straßenrand liegt. Sie werden auch nicht von Katzen gefressen
und sie werden sehr alt. Ihr Geheimnis liegt vielleicht darin, dass
sie sich öfter erneuern als die Anderen und so bleibt mir das
unausweichliche nicht erspart: Nachdem ich meine Pflicht erledigt
habe, werde ich zusammen mit vielen anderen aus großer Höhe
einfach ausgeschieden. Und lande mitten in einem Acker, der gerade
dabei ist, seine Sonnenblumen mit Nährstoffen für die Kerne
zu versorgen...............Manchmal wäre ich gerne ein
Vogelfutter. Das hört sich jetzt vielleicht eigenartig an, aber
manchmal wäre ich wirklich gerne ein Vogelfutter.......
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