Schnipsel

Der Kuss

G'schichterl von Klaus Ebner


Unwillkürlich halte ich an und wende den Kopf zur rechten Seite, zu der Frau hin, die, den Rücken mir zugewandt, auf die Mauer gestiegen ist, um eine Werbeaufschrift zu entfernen. Obwohl ich die Augen nun schließe, sehe ich ihr Bild vor mir, die Frau, ihren Rücken, den Rock und die Beine, schlank und angespannt, weil sie auf den Fußspitzen steht, und ich merke, wie dieser Eindruck sich wandelt, verändert, verschwommene Umrisse ins Spiel bringt, die Hausfassaden im Hintergrund viel schmutziger macht und die Fußgängerzone verschwinden lässt; ihre Schuhe hatten silberne Bleistiftabsätze und von den Fersen liefen dünne Nähte nach oben, wo sie unter den Rock krochen.
Die Verkäuferin wusch etwas von der Wand, ich konnte nicht erkennen, ob es ein Kaufmannsschild oder eine Tafel war, die sie jeden Tag mit Kreide beschrieb. Gleichsam erschrocken war ich stehen geblieben, vor ihren Waden, die mich in ungewohnter Weise anzogen. Mit offenem Mund schaute ich nach oben, angestrengt, da ich mich ohnehin schon recken musste, um den Erwachsenen ins Antlitz zu sehen, und ich wusste nicht, was ich mir lieber wünschte: dass sie meiner gewahrte und mich ansprach oder lieber weitermachte, damit ich ihren Anblick still genießen konnte? Auch die Schule hatte ich in diesem Moment vergessen und ohne besondere Aufmerksamkeit glitt mein Ranzen, in dem ich zwei Hefte und das Pausenbrot trug, zu Boden.
Dann hielt sie inne, zögerte und drehte langsam, mit suchenden Augen, den Kopf. Sie stieg herab, legte das Schrubbtuch zur Seite und kam auf mich zu. Mit einem Mal schämte ich mich, wusste nicht, wohin ich blicken sollte und stellte fest, dass es mir unmöglich war, mich zu bewegen, wie erstarrt blieb ich stehen und bangte den Worten entgegen, die sie mir, mit Recht erbost, sagen würde. Trotzdem gelang es mir nicht, den unvermuteten Wunsch zu unterdrücken, der meine Gedanken verwirrte, den erstaunlichen Wunsch, diese Frau zu spüren, mich gegen ihren Bauch und die bestrumpften Beine zu pressen, wie ich es immer machte, wenn meine Mutter mich zu trösten versuchte.
Von ihren Beinen konnte ich mich gar nicht abwenden, von den Knien, die bei jedem Schritt unter dem Saum hervorlugten, und den Schuhen, die, wenn sie einen auf das Pflaster aufsetzte, nachhallten. Ich machte Anstalten zurückzuweichen, zu fliehen, ihr auszukommen, und dennoch verharrte ich wie angewurzelt; fühlte, dass ich zu schwitzen begann; spürte die Hitze, die meinem Körper zu schaffen machte und das immer lauter tönende Pochen in meinem Kopf.
Als sie vor mich trat und auf mich herabsah, quälte sie mich, indem sie schwieg. Ich schaute hinauf, um zu erkennen, ob sie mir grollte, ob sie schimpfen würde, den Namen meiner Mutter verlangte oder zu einer Ohrfeige ausholte.
Wie sehr jedoch überraschten mich ihr Lächeln, ihr offener Blick und das gepflegte Weiß ihrer Zähne! Sie streckte mir die Arme entgegen und bückte sich. Dann umfasste sie meinen Rücken und schob die andere Hand unter meine Knie; ich schloss die Augen und ließ mich fallen, emporgehoben von der Frau, deren Kraft mich verblüffte, da sie kein einziges Mal ächzte, wie ich es von meiner Mutter gewohnt war. Sie hob mich hinauf und ich lag in ihren Armen, glückselig schmunzelnd und, da sie meine Befürchtungen verscheucht hatte, völlig entspannt.
Ohne mich um das Gleichgewicht zu kümmern, reckte ich den Hals, näherte mich, so glaubte ich, ihrem Gesicht und formte einen Kussmund, um ihre Liebkosung zu empfangen.
Als der Druck ihrer Arme, die Wärme der Haut und ihr Geruch, das Parfum, das ich seit Minuten in der Nase hatte, plötzlich verschwanden, riss ich die Lider auf, krampfte mich zusammen und begriff, dass ich, aus eineinhalb Metern Höhe, zu Boden stürzte.
Tief einatmend öffne ich die Augen und wende mich von der Frau ab, die das Werbeplakat fast zur Gänze von der Wand gelöst hat. Ich überlege, welche Buslinie für meine Fahrt die günstigste wäre und gehe zur Kreuzung.

© Klaus Ebner, Wien 2007

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