Schnipsel

Meine Zeit

Eine Betrachtung von Michael Zoch

Diese Zeit ist meine Zeit.
Sie ist gut und schlecht, in meinen Augen überwiegend schlecht. Die meisten anderen Menschen sehen das anders. Für sie ist diese ihre Zeit die bestmögliche aller Zeiten, alle anderen Zeiten vorher sind in ihren Augen schlechter als die jetzige, alle zukünftigen werden ihrer Ansicht nach sogar noch besser sein und werden als die jetzige. Diese Meinung der meisten Zeitgenossen ist ein wesentliches Merkmal dieser Zeit. Der unbedingte Glaube daran, dass alles besser ist als früher und in Zukunft immer besser werden wird, zeichnet diese Zeit aus. Alles was früher war ist schlecht, jeder, der etwas früheres befürwortet ist ein schlechter Mensch, jeder der nicht zeitgemäß ist und daran glaubt, dass jetzt alles besser ist und in Zukunft immer besser wird, ist im Grunde überhaupt gar kein Mensch, bestenfalls ein Fossil. Ein Mensch ist dann ein Mensch, wenn er an diese jetzige Zeit und ihre Errungenschaften glaubt. Ein Mensch ist kein Mensch, wenn er auch frühere Menschen für Menschen hält. Das Hier und Jetzt ist allein menschlich, der Mensch ganz und ausschließlich Jetzt und Hier, Gestern gibt es nicht, gab es nie, da es nicht Heute und schon gar nicht Morgen ist, und nur Heute richtig und gut und wahr ist. Das Höchste und Wichtigste, was diese Zeit kennt, ist sie selber. Diese meine Zeit feiert sich jeden Tag aufs Neue, sie ist nicht eine gute, alte Zeit, sondern die beste jetzige Zeit, die je möglich war, die je gedacht werden konnte. Diese Zeit ist makellos, sie ist in sich vollkommen, da sie jetzt bzw. Jetzt ist. So denken die Menschen dieser Zeit, die einzigen Menschen, die es jemals gab, die einzigen Menschen, die sich auch so nennen dürfen. Ich bin kein Mensch! Dafür wird man mich eines Tages erschießen oder vergiften oder erhängen oder mit Kartoffelsalat ersticken, denn ich lache nicht. Wer nicht lacht oder zumindest Spaß hat, wenn irgend möglich immer und überall, ist kein Mensch, höchstens ein Terrorist, vielleicht gerade noch ein Saurier. Ein richtiger Mensch, ein wirklicher Mensch, ein Mensch, der sich jetzt und hier Mensch nennen darf, hat Spaß, lacht und lässt sich mit einem Käse fotografieren oder auch einem Stück Kalbsleberwurst.
Er bringt Leistung, glaubt an Demokratie und die Eroberung des Weltraums, seine Hauptbeschäftigungen sind Kommunizieren, Lachen und Spaß haben. Ohne Leistung keinen Spaß, erst die Leistung, dann der Spaß und das Lachen. Dieser Mensch dieser Zeit ist weder weiblich noch männlich, er ist durchweg geschlechtslos.
Oder andersherum es gibt keine Männer, die nicht auch und vor allem weiblich und keine Frauen, die nicht vorwiegend männlich sind, zumindest in den westlichen Wirtschaftsdiktaturen. Dort und in dieser Zeit gibt es weder Männer noch Frauen, sondern nur noch Mannfrauen bzw. Fraumänner, mal mehr das eine, mal mehr das andere.
Alle Mannfrauen und Fraumänner sind jung und schön und haben Spaß. Sie leisten und lachen viel, gehen ins Kino, um dort andere Mannfrauen und Fraumänner bei ihrem Treiben auf der Leinwand zu betrachten und zu lachen, nachdem sie den ganzen Tag etwas geleistet haben, was ihnen keinen Spaß macht. Nach dem Kino gehen der Fraumann und die Mannfrau gemeinsam etwas trinken, von dort in die Behausung des einen oder anderen, um dort einen Beischlaf zu vollziehen, bei dem weder das eine noch das andere Mann oder Frau ist. Am nächsten Morgen trennen sich Mannfrau und Fraumann nach einem Instantkaffee nebst Aufbackcroissant und begeben sich wieder an den Ort ihrer jeweiligen Leistungsvollbringung. Beide wollen so bleiben wie sie sind, jung, schön und dynamisch, sie gehen mit der Zeit, für sie zählen Fortschritt und Leistung, Spaß und Lachen. Sie sind schlank und rank, ganz sie selbst, beide rasieren sich unter der Dusche im Genitalbereich und weinen beim Anblick zerfetzter Kinderleichen. Sie sind gegen das Waldsterben und für den Frieden und für Schwule, denn das macht sie sympathisch und zu mündigen Bürgern einer freiheitlichen Grundordnung. Sie sind eventuell gegen Tierversuche, auf jeden Fall gegen das Robbenschlachten und für das Wirtschaftswachstum und gegen die Umweltverschmutzung. Umweltverschmutzung ist nicht gut, genauso wenig wie tote Robben und Kinder. Ein toter Baum sieht genauso wenig gut aus wie eine gehäutete Robbe oder ein abgerissener Kinderarm auf den Schlachtfeldern von Albanien oder Jordanland und alles zusammen ist wenig lustig. Deshalb sind Mannfrau und Fraumann auch dagegen. Es sieht nicht so gut aus wie der neue 7er BMW oder Brad Pitt oder Sharon Stone oder eine Tüte Milch. Der Mensch dieser Zeit ist gegen abgerissene Kinderarme, aber für Genforschung, denn dadurch kann man ja die Kinderarme wieder an die armlosen Körper basteln. Man könnte die Bäume reparieren und noch neuere Menschen konstruieren, die mehr Leistung bringen, mehr Spaß haben und lauter lachen. Vielleicht könnte man eines Tages sogar den Krebs besiegen, denn gegen Krebs ist der Mensch dieser Zeit genauso wie gegen das Waldsterben und für den Frieden. Um diese Ziele in den richtigen Händen zu wissen, geht der Mensch dieser Zeit wählen. Er wählt einen oder mehrere Politiker, die ihm am geeignetsten erscheinen, das Waldsterben zu beenden und das Wirtschaftswachstum zu sichern und den Frieden und die Rindfleischproduktion. Vielleicht wählt er auch jenen oder jene, die am meisten Spaß versprechen, für jetzt und in Zukunft. Die Politiker dieser Zeit sind ihrerseits bestechlich und korrupt, d.h. sie wollen selber so viel Spaß als irgend möglich haben, weshalb sie sich für ihre Leistung als Funktionsträger des Staates von den Reichen, Schönen und Mächtigen bezahlen lassen, damit sie sich diesen Spaß auch leisten können.
Man könnte und sollte politische Wahlen abschaffen, sie sind eine vollkommen unnütze Einrichtung, die keinen Spaß macht, nicht lustig ist und zudem Geld verschwendet, welches man getrost in Einrichtungen investieren könnte, die sowohl mehr Leistung als auch mehr Spaß versprechen. Wahlen sind nicht lustig, die Kandidaten schon gar nicht, wählen macht keinen Spaß und die Robben werden trotz all der Wahlen weiter abgeschlachtet, obwohl doch alle Menschen dagegen sind. Auch Kinder werden trotz, ja sogar während der Wahlen weiterhin missbraucht. Dabei sind alle Menschen gegen Kindesmissbrauch, aber die Wirtschaft tut nichts dagegen, obwohl sie doch über alles herrscht.
"Warum tut die Wirtschaft nichts gegen diese Perversen?" fragt sich der Mensch dieser Zeit und schlägt schockiert und hilflos die Arme über dem Kopf zusammen. Die Antwort lautet: Da die Wirtschaft die Kinder selber missbraucht, sieht sie natürlich auch keine Veranlassung, gegen den Missbrauch der Kinder vorzugehen. In dieser meiner Zeit werden Millionen Kinder in den westlichen Wirtschaftsdiktaturen tagtäglich vergewaltigt, geschändet, misshandelt. Ausnahmslos jedes Kind dieser Zeit wird jede Minute seines jungen Lebens missbraucht. Man foltert die Kleinen mit Nutella und Fischstäbchen, Gummibärchen und Kaugummi und zu Ostern gar mit kalten Eiern.

Michael Zoch (Braunschweig)

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