Dieser Tage denke ich wie die meisten Europäer sehr oft an
die Muslime. Abgesehen davon, dass, im Gegensatz zu Mohammeds
Schülern, weder meine Ahnen noch die unzähligen
Götter meines Landes im Abendland jemals etwas zu suchen
hatten. Andererseits sind jedoch am Ufer des heiligen Ganges
tausende Moscheen genauso beheimatet wie die Millionen Tempel der
Hindus. Von Benares bis Kalkutta.
Und es kommt nicht selten vor, dass in jenem dicht
bevölkerten Indus-Ganges-Tal ein Bruder anfängt, den
anderen zu hassen, weil sich der andere anders anzieht. Oder einer
einen anderen Gott anbetet oder eine andere Fleischsorte isst.
Nicht selten streiten sich die Geschwister. Gelegentlich auch bis
aufs Blut.
Beim Mord am 11. September dachte ich weniger - wenn, dann am
Rande - an die Muslime. Viel mehr an die skrupellosesten
Terroristen, die sich beliebig aus Völkergruppen,
Minderheiten, Nationen... rekrutieren können. Und als Mensch
spürte ich grenzenlosen Hass gegen die Organisationen,
Gruppen, Länder..., deren Bilder mir in den darauffolgenden
Stunden wiederholt gezeigt wurden. Und allmählich wurde mir
auch die große Gemeinsamkeit immer bewusster gemacht.
Nämlich, dass sie alle Muslime sind.
Ich wurde verzweifelter und verwirrter, und versuchte, meine
Hilfestellungen in den Äußerungen meiner
abendländischen Vorbilder (Dichter und Denker) zu finden. Mit
großer Aufmerksamkeit las ich das Interview "Es ist mir
recht unheimlich geworden!" mit dem Philosophen Gadamer, der
die größten Kriege der Menschheit miterleben mußte.
Seine Antwort auf die Frage um die "Vernünftige Zukunft
mit allen Religionen" gab mir einen Halt, "dass es mit
allem geht, nur nicht mit der arabischen Religion".
Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich vor Jahren in meiner
Neu-Delhier Zeit mit meinem älteren Bruder ähnlich
diskutiert, und wir nahmen als Referenz Bezug auf eine Meldung von
India Today, der "Spiegel" Indiens, die etwa so lautete:
"Weltweit hatten die Völker und Kulturen Ausschreitungen
mit Muslimen. Egal, ob sie in einem Land wie in Indien als
Minderheit oder in einem Staat wie in Indonesien als Mehrheit
lebten."
In meiner kleinostindischen Heimat Motihari, wo George Orwell
die Welt erblickte und Ghandhi 1917 seine Satyagrah startete,
leben die Muslime als Minderheit. Und in meiner Kindheit und
Jugend hatte ich als Hindujunge interessante Beziehungen zu ihnen.
Sie waren meine unmittelbaren Schul- und Spielkameraden. Dann gab
es alle paar Jahre Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen,
den gegensätzlichen Religionen der Inder. In den angespannten
Tagen und Wochen wurden Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Die
Eltern verboten den Kindern, an den Stadtteilen vorbeizustreifen,
in denen die Moscheen standen.
Es gab etwa wie die Kasseler Nordstadt ein kleines muslimisches
Ghetto namens Agarwa. In dem Viertel wohnte eine muslimische
Großfamilie, mit der mein hinduistischer Vater verwandt war.
Ja, verwandt ist der treffende Begriff, weil mein
disziplinfanatischer Vater, der in seiner eigenen Familie Angst und
Furcht erregte, als der beliebteste und großzügigste
Onkel jener muslimischen Familie gesehen wurde. Und die Kinder
jener Familie sagten uns, dass sie erst als Jugendliche erfuhren,
dass mein Vater weder Muslime und noch ein blutverwandter Onkel
war. Logisch, weil mein Vater lebenslang ein großer Liebhaber
der islamisch-indischen Kultur blieb. Er sprach ein gehobenes
Urdu, und in seinem Kleiderschrank befanden sich modische
Sherwanis. Wir Kinder gehörten jedoch einerseits zu einem
westlich angehauchten Zeitalter und zugleich zu dem modernen
emporstrebenden Indien, als dessen Erzfeind Pakistan samt seinen
Muslimen galt.
Mich und meinen Bruder interessierten vor allem die Feste der
Muslime, zumal wegen der süßen Leckereien. Meine Mutter
kommt aus einer strengen hinduistischen Vegetarierfamilie, und
zuhause darf man bis heute kein Fleisch essen. Wir, die beiden
Brüder, hatten schon in unserer Jugend den Geschmack für
das Fleisch entwickelt. Zu ihren Festen kochten die Muslime
für ihre Hindu-Gäste und -Nachbarn extra Ziegenfleisch,
bei dessen Erinnerung gerade mir das Wasser im Mund
zusammenläuft. Ich kann mich noch des Tages erinnern, als wir
in jenem Jahr auf dem Fest Eid-ul-Azha jene Familie am
Spätabend besuchten, und das Fleisch war bereits alles
verzehrt. Wir haben zwar etwas zum Essen bekommen, aber kein
Fleisch. Ich war sauer, und wir Brüder machten ein langes
Gesicht. Das hat die Tante verstanden, und sie beorderte sofort
ihre Töchter oder ihre Schwiegertochter, für uns das
Fleisch frisch zu kochen. Ich wurde glücklich.
Schon als Kind war ich Revoluzzer, und ich entfernte mich früh
von meiner Familie. Ich besuchte die letzten Schuljahre tausende
von Kilometern weit entfernt in Großstädten. Meine
Familienvisite wurden in jener Zeit immer seltener wegen der
angespannten Familienverhältnisse und wegen der hohen
Bildungskonkurrenz im Milliardenland. Ähnlich galt für
meinen älteren Bruder. Wir eiferten um die besten Noten und um
die besten Zensuren, um in die Hierarchie der indischen Bourgeoisie
aufsteigen zu können.
In Neu-Delhi traf mein Bruder seinen Schulfreund Aquil Ahmad,
einen Muslimen, wieder. Bei diesem Wiedersehen entwickelten sich
beide zu Busenfreunden. Ein wichtiger Grund war, dass sich Aquil in
der Urdu-Literatur spezialisierte. Und die Verse jener Dichtung
gehörten zu den Mußestunden meines Mathematiker-Bruders, der
jetzt als gemachter Mann in den Vereinigten Staaten lebt und
arbeitet. Ich bekam die Intensität ihrer Freundschaft nur am
Rande mit, weil ich als Streber in einer fremdsprachlichen
Abteilung einer anderen Hochschule emsig studierte. Ich erfuhr auch
im Laufe der Zeit, dass Aquil seinen Vater schon als Kind verloren
hatte. Er nannte meinen Vater mal Onkel und mal wie wir Baba(6). In
der letzten Zeit eher das letztere, als wir beiden Söhne zum
Studieren in zwei verschiedene Länder auswanderten.
1993 arbeitete ich als Werkstudent im Volkswagenwerk Kassel, als
gegen jedwede Erwartung die Nachricht eintraf, dass Baba auf dem
Sterbebett lag. Ich nahm den nächsten Flug, und als ich im
Schock in Neu-Delhi landete, organisierte Aquil, der
Muslime-Freund, mein rasches Fortkommen zur ostindischen Stadt
Patna. Ich konnte zwar Baba in seinen letzten Minuten nicht
treffen, aber als Hindu-Sohn übergab ich seinen Leichnam dem
Feuer am Gangesufer. Bei allen letzten ufwendigen Trauerzeremonien
funktionierte Aquil Ahmad wie eine koordinierende Maschine.
"Was ist eigentlich Islam? Ich gebe zu, daß mich diese
Frage bis heute eher marginal beschäftigte. Der Unterschied
zwischen Sunniten und Shiiten ist mir egal, und ich kann mir das
Jahr partout nicht merken, mit dem die mohammedanische Zeitrechnung
beginnt. 620? 628?", schreibt mein Kollege Dirk Schümer
am 30. September in der FAZ.
Die gleichen Fragen gelten für mich. Aber mein Fall ist
berechtigter, weil ich aus einem Land komme, wo die Religion selten
in der Schule unterrichtet wird. Darüber hinaus habe ich als
gebildeter Tiefgläubiger bloß einen Teil der zahlreichen,
hinduistischen Veden, Upanishden und gigantischen Epen gelesen.
Bei CNN sah ich auch eine muslimische Akademikerin mit ihrem
Argument klagen, dass 1/3 der Weltbevölkerung aus Muslimen
bestehe. Und solange sich die Welt nicht bemüht, die Muslime
zu verstehen, bliebe eine friedliche Koexistenz eine Utopie.
Die Hindus sind längst nicht 1/3 der Welt und die
Buddhisten noch viel weniger. Ich versuche mir eine
Weltkonstellation vorzustellen, wenn Millionen Kuhanbeter und ihre
Milliarden Götter die Tempelglocken in Europa ertönen
ließen.
Dann fällt es mir, einem in Europa ausgebildeten Schreiber,
noch schwerer, diesen Aufsatz mit der Einsicht des weisen
Europäers Gadamers zu beenden: "Ich weiß es nicht.
Ich halte zu unserer Welt, ich brauche dazu gar keine schriftliche
Erklärung. Das ist wirklich sehr schwierig für einen
Europäer zu verstehen, dass das für andere nicht so
ist."
Und als flüchtigen Trost lasse ich meine Gedanken zu den
Moscheen am Gangesufer schweifen, zumal mich in meiner Wahlheimat,
wie einige meiner abendländischen Kollegen, weder Moschee noch
Islam beschäftigt.
© Anant Kumar 2002 (Motihari/ Kassel)
|