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Schnipsel

"Rache"

Kurzgeschichte von Ingrid Varnhorst Brown




Die alte Frau richtete ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, ihren altgedienten Einkaufswagen in immer wiederholenden Schleifen um den Hundekot herum und über die fetten, gekräuselten Sprenkel Menschenspeichel hinüber zu ziehen, dass seine Räder damit nicht in Berührung kämen. Erziehungssache. Körpersekrete, wie das Wort schon sagte, waren privat, sie gehörten nicht in die Öffentlichkeit.
Aber heutzutage war das anders. Hier standen in den Schulpausen die verunglückten Abiturienten herum, die es bei der Privatschule im Haus noch mal versuchten. Sie rauchten, spukten, redeten große Töne, und rückten keinen Deut beiseite, um sie durchzulassen. Sie musste sich durch die am Straßenrand geparkten Autos zwängen, um auf der Straße ihre undurchdringliche Masse zu umgehen. Der Bürgersteig war auch sonst eine Landkarte menschlicher und tierischer Tätigkeiten. Bei dem Hundekot wußte man nicht mal mehr, ob er wirklich von Hunden produziert war. Das verursachte ihr immer wieder Unwohlsein und Bedauern. Ersteres weil es halt doch Erziehungssache war. Letzteres, weil sich alles so zum Unvorteilhaften veränderte.
Was machten alte, halbblinde Frauen, die mit verdreckten Schuhen oder Einkaufswagen in ihre Wohnung spazierten? Sie zum Beispiel konnte sich ja kaum noch bücken, sofort wurde ihr schwindelig. Ihre wöchentliche Putzhilfe zu bemühen, wäre ihr peinlich. Bitte entschuldigen Sie, ich habe da nicht aufgepaßt auf der Straße.

Bei ihrem langsamen Bürgersteigslalom hatte sie kaum Zeit in den Himmel zu schauen. Glücklicherweise der alte, wie immer. Blau heute. Also trocken, kein Rheuma. Wie langsam sich die Zeit abspulte. In Schleifen praktisch. Vorwärts gings kaum noch, aber immerhin etwas Bewegung in Schleifen. Was würde sie heute tun?

Die alte Frau stemmte die schwere Eingangstür auf und zog ihren Einkaufswagen eine Stufe hoch in den Hausflur. Dieses schäbige alte Haus. Alles vernachlässigt. Dreckige Wände. Vergammelte Böden. Dieser Fahrstuhl. Ein Ungetüm aus den dreißiger Jahren. Ein Bretterkasten, der rauf und runter fuhr, ein bißchen breiter als ein Sarg, eine Seite offen, mit schiebbarem, ölverschmiertem Ziehharmonikagitter, durch das sie beim Hinauffahren auf immer dieselben häßlichen Wohnungstüren schaute.
Heute kam das Ding nicht, als sie auf den Knopf drückte, wie so oft nicht. Sie rief in den Fahrstuhlschlauch. Bitte Fahrstuhl. Fahrstuhl bitte. Schließlich fing sie seufzend und pustend an, die Treppe hochzusteigen, langsam und sorgfältig eine Stufe nach der andern nehmend. Den Einkaufswagen ließ sie unten stehen.
Sie murmelte vor sich hin, zischte Schimpfwörter. Die paar Mikroben, dumme, indifferente Moleküle, die sie in ihre Wohnung trug, würden sie nicht umbringen. Aber dies Steigen. Eines Tages würde sie tot auf der Treppe umfallen. Im vierten Stock fand sie den Fahrstuhl. Das Eisengitter war nicht ganz zugefallen. Das Gitter lief auf einer alten Schiene, die immer wieder geschmiert werden mußte, sonst blieb es stecken. Es hing doch das Schild im Fahrstuhl, man möge beim Verlassen des Fahrstuhls auf völlige Schließung der Tür achten. Konnten die Leute heutzutage nicht mehr lesen?

Die alte Frau stieg in den Fahrstuhl, holte unten ihren Einkaufswagen ab und ließ sich dann in den fünften Stock fahren. Sie war verärgert und erschöpft. Diese Gelenke, die nicht mehr mitmachten. Ihr Herz pumpte mit beängstigenden Stößen. Das mußte ein Ende nehmen. Sie würde es ihnen heimzahlen.

Sie ging in ihre Wohnung, räumte die eingekauften Sachen in den Kühlschrank. Dann zog sie Schuhe und Strümpfe aus und watschelte auf qualligen Patschfüßen an ihren Tisch. Eine Ecke des Tisches war für einen Stapel weißer Blätter reserviert, auf denen sie ab und zu einen Brief an ihren Sohn schrieb. Sie schob Zeitungen und Bücher beiseite, suchte ein Lineal.
Schließlich nahm sie ein Lexikon, zeichnete an seinen Kanten entlang ein hohes, vertikales Rechteck auf das weiße Papier, unterteilte es sechsfach in der waagerechten und dreimal in der senkrechten. Dann schrieb sie Ziffern in die so entstandenen Kästchen.

Im sechsten rechts der verdammte Alkoholiker, der nicht krepieren wollte. Gartenzwergtyp. Weißer Bartkranz am Kinn. Konnte kaum noch gehen, war aber immer noch da. Schlurfte, als hätte er Schuhsohlen aus Sandpapier, den ganzen Tag mit dumpf klopfenden Stock über ihrem Kopf herum. Dem würds recht geschehen. Kommt um Mitternacht nach Hause, klopft sie regelmäßig aus dem Schlaf. Fällt manchmal, dann schlägt er wild mit dem Stock auf den Fußboden, daß ihr Herz anfängt zu hämmern und sie ruft einen Notdienst an. Telefonnummer liegt da, immer bereit. Das würd ihm passen, kommt nach Hause, kann nicht rauf. Also, für ihn Fahrstuhltür offen lassen um elf nachts. Dreiundzwanzig schrieb sie ins Kästchen.

Links war niemand, seitdem es da mal gebrannt hatte. Kreuz. Mitte wohnte eine junge Studentin mit ihrem Freund. Er arbeitete, aber sie war oft da. Hübsche Blumen hatten sie auf dem hinteren Balkon. Aber ein bißchen Gymnastik kann denen nicht schaden. Sollen ruhig fühlen wie man so lebt mit Rücksichtslosigkeit der anderen. Neunzehn schrieb sie in das mittlere Kästchen. So seine Zeit.

Ihre Etage. Rechts war ja sie selbst. Kreuz. Mitte eine Alte. Das Haus voll davon. Alles ihre Generation. Alles Langleber. Fortschritt der Zivilisation, das? Eine Quälerei. Verkniffenes Gesicht unter schütternem Haar, doch wollte sie der Frau nichts Böses. Sie konnte ja hören, wie sie jedesmal die Fahrstuhltür sorgfältig zuschob. Wann ging sie aus? Einkaufen morgens, ab und zu Freundinnen besuchen nachmittags. Hoffentlich kam sie nie nach elf abends wieder. Kreuz ins Kästchen.

Links wohnte der alte Professor Kant. Komisch, viel vom Philosophen hatte er nicht. Empfing oft jungen Damenbesuch. Ging kaum noch aus. Aber diese jungen Dinger ließen oft die Fahrstuhltür offen. Würde ihnen gern eine Lektion erteilen, ist aber nicht programmierbar. Also Kreuz.

Vierter. Eine andere verbiesterte Alte. Das Haus, ein wahres Wabennest alter Arbeiterinnen. In wieviel Jahren hatten sie einander nie gegrüßt? Mit dem Rechnen wollte es nicht mehr so fix gehen. Als Albert nach seiner Pensionierung eines Tages tot aus dem Bett fiel, kurz danach war sie unter ihr eingezogen. Achtzehn Jahre waren das her. So alt wie sie. Damals schon alt. Alt macht man keine neuen Freundschaften. Verbiestert und vornehm. Immer tiptop angezogen. Muß Stunden mit Aufbereitung des verjährten Materials zubringen. Soll ruhig mal die Wahrheit erfahren, wisch die Vornehmheit weg, drunter steckt doch die Misere. Geht morgens zum Einkaufen, nachmittags spaziert sie auch herum. In ihr Kästchen schrieb sie zehn und siebzehn. In das Nebenkästchen dasselbe. Wieder eine alte Zicke. Alte Zigeunerin. Sah so aus. Nicht nur spitzes Gesicht, spitzer Ausdruck. Ihre Augenbrauen zwei gerade gezogene schwarze Striche auf der Mitte der Stirn. Rotgefärbte Haare, Lippenstift, der ihre dünnen, nach innen gestülpten Lippen überkleckste. Rotgemalte Flecken auf den welken Backenknochen. Kurze Röckchen über Beinen, die so weit auseinanderstanden, da könnte ein Kinderwagen unter durch fahren. Redete ununterbrochen auf ihre junge Betreuerin ein, die sie durch die Straßen führte. Hatte ihren Mann zu Tode geredet. Hieß es. Daneben wohnten die zwei fetten Schwestern. Gingen noch arbeiten, Gott weiß was. Sie sah sie oft abends müde, mit schweißverklebten, grau-blonden Haaren nach Hause watscheln. Hatten Beinprobleme. Wie Baumstümpfe. Ein Kreuz. Es würde sie sowieso mal erwischen.

Dritter Stock wohnte in zwei zusammengelegten Wohnungen eine Familie von Monstern. Vater Riese in der fettstämmigen Art, kurzgeschore Halbglatze. Mutter Riese winters und sommers ohne Strümpfe. Hüftschwung eines Bernadiners mit nach innen gerichteten Zehen. Natürlich hatten sie Riesen gezeugt. Noch keine fünfzehn erreichten die zwei Söhne die Höhe der Eltern. Verschlossene, nach innen gekehrte Familie. Unsensibilität, Frugalität, die Wohnung primitiv wie ein Lagerplatz von Cromagnums. Diese Leute liefen sowieso immer. Ein Kreuz. Leider wohnte nebenan eine hüftgeschädigte ältere Frau. Kann wirklich nicht steigen. Schicksal. Kreuz.

Die beiden ersten Etagen fand unsere alte Dame nicht interessant. Leute zogen ein und aus. Viele junge. Denen war es egal, mal ein paar Etagen zu laufen. Allerdings, am Samstag kamen sie alle vom großen Einkauf wieder, gut, sagte sie sich, schrieb pauschal für die zwei ersten Etagen drei, vier, fünf am Samstag auf. Dann mußte sie eben einmal ihren Nachmittagsschlaf unterbrechen.

Gleich am nächsten Tag setzte die alte Dame ihren Plan in die Tat um. Ihre Skizze steckte sie mit einem Heftzwecken innen an ihrer Wohnungstür fest. Zu den von ihr festgesetzten Stunden rief sie den Fahrstuhl, fuhr entweder in den sechsten oder den vierten Stock, ließ die Fahrstuhltür offen und stieg zufuß in ihre Wohnung zurück.
Natürlich sollte niemand denken, daß sie einer solchen Unachtsamkeit fähig sei, deswegen ließ sie ihn nie im fünften Stockwerk stehen. Tagsüber spitzte sie die Ohren, ob sich da draußen etwas täte. Sie fühlte die Befriedigung, die kommt wenn man einen Racheakt verübt. Es gab wahrhaftig viel Gelaufe auf den Treppen, auch viel lautes Zuschlagen der Fahrstuhltür. Dies elende Haus war so hellhörig, sie konnte ihre Nachbarn furzen hören.

Nach zwei Tagen ließ sich die Fahrstuhltür nicht mehr offen halten. Die Schiene, auf der die Tür lief, war nachgeschmiert worden. Die alte Dame überlegte, dann knipste sie Streichhölzer mit dem Fingernagel in kleine Stücke und legte diese vorsichtig in die Schienenbahn etwa fünf Zentimeter bevor die Tür sich schloß und den elektrischen Kontakt herstellte. Die Holzstückchen amalgamierten sich sofort mit dem dreckigen Öl, waren nicht mehr zu sehen. Dann ließ sie langsam die Tür zugleiten, bis sie an dem Hindernis steckenblieb. Das klappte. Vorübergebeugt, hochrot im Gesicht, richtete sich die alte Frau auf, und ging pustend zurück in ihre Wohnung.

Am Sonntag machte sie einen Spaziergang. Es war Mai. Die Sonne schien. Sie ging die große Straße hoch, wo sich eine dunkle Menge an Kinos und billigen Restaurants entlangschob. Die Fahrbahn stak voller Autos. Ihr schien, alle Leute sahen gleich aus. Hhäßlich, ungekämmt, mit seltsamen Haarschnitten, trugen Schuhe oder Turnschuhe ohne Schnürsenkel, geknückelte Hosen, schwarze Lederjacken.
Sie drehte ab in eine Seitenstraße, um in die stille Allee zu gelangen, die sich am Friedhof entlangzieht. Dort standen in Viererreihe Akazien mit sanftgrünen, graziösen neuen Blättern . Sie setzte sich auf eine Bank, um sich auszuruhen. Eine Amsel sang. Am Schluß bleibt einem nur der Friedhof, dachte sie.

Als sie sich erhob, um weiterzugehen, sah sie einen schönen jungen Mann im Rollstuhl an der Nachbarbank, wie er seine Decke wegschlug und sich mit starken Armen vom Rollstuhl auf die Bank hievte. Er hatte kleine, verkümmerte Beine, die nutzlos an seinem Torso baumelten.
Aber oben war er vollendet. Geschmückt sogar. Lockiges dunkles Haar, dunkle Augen, rundes Gesicht, Ohrringe, Ketten, glitzerndes T-Shirt, stolze Brust, Gürtel. Er öffnete seinen Hosenschlitz und zog ein fettes männliches Glied heraus. Es war dick und sanft wie ein Stück gerollter Kuchenteig.
Er nahm es in die Hand als die alte Frau an ihm vorbeiging. Er sah sie wohl. Warf ihr einen triumphierenden Blick zu. Herausfordernd. Sag mir, alte Frau, bin ich ein schöner Mann. Da ich lebe, habe ich ein Recht auf Glück?

Die alte Frau kicherte in sich hinein. Dies listige Schweinchen. Wohl selten allein. In einem Heim. Aber in der sanften Brise unter den Frühlingsbäumen kam ihr alles normal und harmonisch vor. Wer hatte das Recht seinen Nächsten zu verurteilen? Jeder auf seine Fasson. Dann schämte sie sich ein bißchen. Nicht zu sehr. Schließlich sollte man sich auch nicht auf den Füßen rumtrampeln lassen. Doch sagte sie sich: Schluß mit der Strafaktion. Wenn Rache süß war, sollte man auch in ihrem Genuß maßvoll sein. In ihrem Wohnhaus angelangt, rief sie den Fahrstuhl, war glücklich, daß er kam. Am Fernsehen heute abend gab es N.Y.P.D. Blue.


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