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Schnipsel

"Warum der Regenwurm nicht weinen kann"

Ein Dialog von Christian Steltz
(Buchauszug aus "Nordsee-Zivis und andere Racker")

"Und was ist das mit dem Regenwurm?"

"Was? Du kennst die Regenwurm-Geschichte nicht? Mensch, und du willst mir sagen, du hättest Dich auch noch nie gefragt, warum Regenwürmer keine Augen haben?"

"Nöö, nicht wirklich."

"Aber du hast als Kind doch immer lustig mit dem Spaten im Garten Regenwürmer massakriert?"
"Das schon."

"Ohne Dich jemals zu fragen, wie sich so'n Wurm dabei fühlt?"

"Mein Gott, was ist denn schon so'n Wurm?! Du bist wirklich ein waschechter Zivi. Liebe alle Lebewesen!"

"Dir ist aber schon aufgefallen, daß die geteilten Würmer in zwei verschiedene Richtungen wegkriechen?"

"Ja, das ist doch das Spaßige daran."

"Also?"

"Wie also?"

"Warum rennen die in zwei Richtungen weg?"

"Keine Ahnung. Warum denn?"

"Weil Regenwürmer nicht weinen können, sie können keinen Schmerz ausdrücken, also rennen sie stets davon, wenn es um Gefühlserfahrungen geht."

"Aha."

"So ist das alles."

"Und warum können Regenwürmer keine Gefühle zeigen?"

"Wegen der Heuschrecke."

"So, Driemer. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder fängst du jetzt am Anfang an oder du hörst endlich auf, mich vollzutexten."

"Okay."

"Ja also?"

"Wie also?"

"Ja, was ist nun mit dem Regenwurm?"

2Nein, ich hör lieber auf Dich vollzutexten. Das ist sowieso nur so 'ne Art Masche von mir, um Mädels zu beeindrucken. Weißt du, ich erzähl die Geschichte, die Mädels sind beeindruckt und ich bin ein toller Hecht."

"Jetzt erzähl! Ich hab keine Lust auf Deine Spielchen. Ich will die mist Geschichte hören."

"Okay. Wir befinden uns am Anfang der Welt. Am Anfang aller Zeit, als es noch keinen Menschen auf der Erde gab, lebten die Tiere als stolze Könige ihrer Welten. Leben hatte noch eine heilige Definition, die Regeln waren einfach. Fressen und gefressen werden, lieben und geliebt werden. Und damals gab es unter allen Tieren eines, das eine unsagbar schöne Stimme hatte. Dieses Tier war die Schlange.
Lange bevor sie Adam und seine Braut mit dem Apfel linken sollte, war die Schlange eine bezaubernde Sängerin. Sie sang einzigartige Melodien und in ihrem Gesang schwang alle Wahrheit der Welt mit. Ihre Lieder drückten alles Leid und alle Schönheit des Lebens aus. Alle Tiere hielten inne, wenn sie die Schlange singen hörten, ließen ihrer Tage Tätigkeit auf einen heiligen Moment ruhen. Der Gesang der Schlange bedeutete allen Tieren so viel, daß ein wirklich schöner Tag nur so einer hatte sein können, an dem man die Schlange singen hörte. Wohin auch immer ihr Gesang drang, erblühte noch in just demselben Augenblick Glückseligkeit.

Ganz besondere Momente der Freude bereitete der Schlangengesang einem kleinen, unscheinbaren Tier: dem Regenwurm.

Fast immer war der Regenwurm gefangen in seiner Traurigkeit. Nur manchmal schob sich ein Glanz über die verbitterte Körperhaltung des Regenwurms. Dann richtete er sich auf, hob den Kopf und schüttelte sich vor Glück. Es steckte so viel unverhoffte Kraft, so viel pures Leben in diesem Aufbäumen, das die Tiere, die dem Wurm dabei zuschauten, im selben Moment dankbar zur unsichtbaren Hand der Gnade emporblickten. Dieses Schauspiel fand aber nur dann statt, wenn der liebliche Gesang der Schlange an das Ohr des Regenwurmes drang. So schön es auch war, ihn in seiner Freude zu beobachten, so sehr ging dem Betrachter auch das schauerliche Nachspiel zu Herzen.

Nach diesem Ausbruch plötzlichen Lebens sank der kleine Kriecher nämlich stets in sich zusammen."

"Driemer, bist du mal wieder bei deiner Regenwurm-Geschichte! Kannst mich ja rufen, wenn du an der Stelle mit dem Ohrenkneifer bist", sagte Hilke mit einem Augenzwinkern. Und schon war sie wieder verschwunden, als Spur ihres Besuches standen lediglich zwei volle Gläser Weizenbier auf dem Tisch.

Ziege war tatsächlich der einzige Mensch auf Borkum, der die Geschichte noch nicht gehört hatte.

"Wo waren wir?" fragte Driemer nach dem roten Faden suchend.

"Nachdem der Wurm richtig happy war ..."

"Ja, genau. Die spontane Wurmfreude führte jedes mal dazu, daß der Regenwurm nicht nur in seine ursprüngliche, niedergeschlagene Haltung fiel, sondern sich sogar wie das verkörperte Elend gegen den Erdboden drückte.

Der Regenwurm hatte nämlich keine Stimme. Deshalb stimmte ihn, der ja nicht sprechen also auch nicht singen konnte, der walderleuchtende Gesang der Schlange unendlich traurig. Wenn er dann so selbstverloren am Boden lag, rollten ihm vereinzelte Wurmtränen aus den großen, schwarzen Kulleraugen. Seine Augen waren wie die Knopfaugen eines Teddybären. Unter Tränen wünschte er sich, daß er einfach so liegen bleiben und der Erde, auf der er lag, gleich werden könnte.

Ähnlich traurig machte ihn eigentlich alles Schöne, was es zu hören oder zu sehen gibt. Die ersten Sonnenstrahlen, die die heimische Lichtung mit Helligkeit durchfluten, vom Tau benetzte Frühlingsknospen, bereit zum Erblühen, ach, wirklich alles Schöne erfüllte den stummen Regenwurm mit tiefer Trauer. Es schmerzte ihn, weil er niemandem von den Dingen erzählen konnte, die er gehört oder gesehen hatte.

So kam es, daß der Regenwurm sich eines Tages weinend unter einem Kleeblatt kauerte. Er hatte sich untergestellt, weil es so stark regnete, daß es für die kleineren Insekten eine richtige Bedrohung war. Der Regenwurm weinte während die faserigen Farben eines Regenbogens durch die Baumwipfel brachen und an und für sich alles andere als Tränen versprachen.

Als er da so traurig der Stimme hinterher weinte, die er nie besessen hatte, beobachtete ihn die Grille voller Mitleid. Selten zuvor hatte sie ein so trauriges Tier gesehen. In seiner Hilflosigkeit erinnerte der Regenwurm sie an die Schlange, welche sie stets für das traurigste unter den Tieren gehalten hatte. Selbst wenn die Schlange zu Lobeshymnen und fröhlichen Melodien aufgelegt war, glaubte die Grille in dem Gesang etwas Melancholisches auszumachen. Die Grille kannte den Grund dafür, daß die Schlange so traurig war. Sie schön sie auch von der Welt zu singen wußte, hatte sie doch nie eine Ahnung, wovon sie eigentlich sang. Die Schlange war nämlich ein blindes Tier, von Anfang an. Und da die Grille ebenfalls von dem schlagenden Schicksal des knochenmüden Regenwurmes wußte, hatte sie einen beachtlichen Einfall. Sie faßte für sich zusammen, was sie wußte. Der Regenwurm war traurig, weil er endlich sprechen können wollte. Die Schlange war deprimiert, sie wollte sehen können. ‚Aha', dachte die Grille, ‚wenn das schon das Problem ist, da läßt sich doch etwas machen'.

Sie sprach mit beiden Tieren und verabredete einen Handel. Der Regenwurm würde eine Stimme bekommen, und zwar die schönste, die es im Tierreich gab, und die Schlange sollte dafür mit großen, runden Knopfaugen all das sehen dürfen, das sie bisher besungen hatte.

Beim nächsten Aufgang der Sonne trafen sich die drei unter dem großen Farn auf der Lichtung. Welch ein Morgen das war!

Der Regenwurm war tierisch aufgeregt, so lebendig war er lange Zeit nicht mehr gesehen worden. In Gedanken sortierte er all die Geschichten, die er erzählen wollte, während er der Schlange zuhörte, die ihrer Stimme noch ein Abschiedslied mit auf den Weg geben wollte.

Als der letzte Ton ausklang, nahm die Grille als Mittelstier die Stimme der Schlange und die Augen des Wurmes an sich. Nun sollten die Geschenke der Hand der Gnade auf ein Neues verteilt werden.

Die Schlange schlängelte sehgierig auf in die Pflanzenwelt, als sie ihre neuen Augen von der Grille erhalten hatte. Ob ihr gefallen hat, was sie zu sehen bekam, kann kein Tier wissen, da man sie ja nicht danach fragen konnte, nun da sie keine Stimme mehr hatte. Aber über den schwarzen Augen lag ein Glanz; so wundervoll verzaubert, daß man sich hätte wünschen mögen, selbst einmal die Welt mit neuen Augen sehen zu dürfen.

Zum Regenwurm allerdings sagte die Grille, daß sie meinte, eine kleine Anerkennung für ihre Vermittlerdienste verdient zu haben. So wurde ausgemacht, sich bei Sonnenuntergang wieder an derselben Stelle zu treffen. Für ihre Dienste war es nur angemessen, der Grille für einen Tag die schöne Schlangenstimme zu leihen, dachte der Regenwurm. So blieb er alleine zurück, als die Grille dem Weg der Schlange folgte. Gerade wie er jetzt war, ohne Augen und ohne Stimme, war der Regenwurm glücklicher als je zuvor in seinem stummen Leben. Er malte sich aus, wie es mit seiner neuen Stimme sein würde. Er dachte an alle Lieder, die er von der Schlange gehört hatte, und versuchte, sich an die Texte zu erinnern.

Und wie er so in seine Phantasiewelt eintauchte, verging die Zeit wie im Fluge. Bald schon mußte die Sonne untergehen, dachte der Wurm. Er meinte, daß es ein bißchen kälter geworden war. Auch glaubte er, weniger Licht auf seinem Gesicht zu spüren. Er wartete. Er vertrieb sich ein wenig die Zeit, indem er stimmlos vor sich her sang. Er wollte gewappnet sein, wenn er seine Stimme bekam. Doch dieser stumme Gesang war eine höchst verdrießliche Beschäftigung. Er schöpfte alle seine Möglichkeiten aus und lauschte. Was hätte er mehr tun können als angestrengt die Ohren aufzusperren, der Ärmste?

Ihm war komisch. Das Tierreich war ungewöhnlich still. Ihm dämmerte, daß die Nacht schon ihr dunkles Gewand über die Erde gelegt hatte. Er lauschte. Es war nicht viel, was er hören konnte.

Plötzlich wurde ihm ein gänzlich unbekanntes Geräusch gewahr, eine Art Zirpen. Natürlich konnte er nicht wissen, daß dieses Zirpen von der Grille kam. Für die Grille war die Schlangenstimme zu gewaltig. Der kleine Grillenkörper konnte nicht Herr über diese Stimme sein, so daß beim Versuch zu singen, der ganze kleine Körper vibrierte und nur ein Zirpen herauskam.

Doch all das wußte der Regenwurm nicht. Das, was ihm plötzlich bewußt wurde, war, daß die Grille nicht zurückkommen würde. Aber warum nur? War sie einem Feind zum Opfer gefallen?

Er machte sich Sorgen um die Grille, die so gut zu ihm gewesen war und für ihre Mühen nicht mehr verlangt hatte, als einen Tag lang die Schlangenstimme zu tragen.

Der Gedanke verfestigte sich in ihm und war letztlich nicht mehr zu ignorieren. Der Grille war etwas Schreckliches passiert. ‚Der arme Hüpfer', dachte er. Er wurde plötzlich sehr traurig. So traurig, daß er von vollen Herzen hätte weinen mögen, aber das konnte er ja nicht ohne seine Augen.

Blind und stumm wie er war, fand er keine Möglichkeit, seine Traurigkeit zu zeigen. Hilflos, beinah ohnmächtig fühlte er sich. Es war ausweglos.

Unter dem großen Farn auf der Lichtung stehend dachte der Regenwurm, daß die unsichtbare Hand der Gnade ihn gestraft hatte. Weil er eine unwürdige Kreatur war, hatte die unsichtbare Hand ihm ihre Gnade entzogen. Und um ihn zu strafen, hatte die arme, unschuldige Grille ihr Leben und seine Stimme lassen müssen.

‚Ich bin ein schlechtes Tier', dachte der Regenwurm. Er beschloß, sich tief in die Erde zu graben, damit kein Tier sehen sollte, wie er von der Hand der Gnade bestraft worden war. Seitdem lebte er unter der Erde. Er war trauriger als je zuvor und wünschte sich täglich seine großen, schwarzen Wurmaugen zurück, um seinen Schmerz wenigstens in Tränen fassen zu können. Schmerzlinderung erfuhr er nur noch, wenn er Regentropfen auf den Erdboden klopfen hörte. Dann grub er sich an die Oberfläche und blieb im Regen stehen. Gerne hätte er jemandem erzählt, daß der Himmel nur wegen seines schweren Wurmschicksals weinte. Wirklich gerne, aber er konnte ja nicht sprechen."

Driemer schaute Ziege an, der gebannt zugehört hatte, und steckte sich eine Zigarette an.

"Das ist die Geschichte, warum der Regenwurm nicht weinen kann. Ende."

© Christian Steltz

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