Schnipsel

Geschichte von der Schwester Ines

von Stefan Sonntagbauer

I wanna know what love is
I want you to show me
I wanna feel what love is
I know you can show me
Aaaah woah-oh-ooh!!!

foreigner

Der alte Mann, der halbtot im Bett darauf wartet, endlich ganz tot zu sein, steht ein letztes Mal auf, geht zum Fenster und schreit hinaus: "Ruhe! - Ich will hier in Ruhe sterben, es Gefraster, es Saubeidln, wo bleibt eigentlich der Respekt vor dem Alter, ich habe immerhin dieses Land mit meinen Händen aufgebaut - da, schaut's nur her alle, wie schiarch meine Hände geworden sind von dem vielen Aufbauen, meine Hände sind Schaufeln, das sind keine Hände zum Frauen-Ausgreifen oder Puddingkochen, das sind überhaupt keine Hände mehr, das sind Aufbauschaufeln, und was hab ich aufgebaut? - Gar nichts! Mein eigenes Grab hab ich mir geschaufelt, viel zu spät bin ich draufgekommen, dass man sich mit einer Schaufel ja gar nichts aufbauen kann, ein Grab kann man sich schaufeln, aber nicht einmal da kann man seine Ruhe haben! Gusch jetzt, verdammt noch einmal, oder ihr werdet's alle vergast, nachträglich!"

Dann macht es einen langen Piep. Daran hört man, dass das Herz von dem Mann stehen geblieben ist. Schwester Ines kommt und sammelt ihn ein. Ein bisschen traurig ist es schon, wenn die Menschen sterben. Vor allem, wenn sie so sterben wie der alte Mann. Wenn er sich nicht so aufgeregt hätte, würde er wahrscheinlich noch leben. Dann hätte er zum Beispiel heute Nacht im Schlaf sterben können. Vielleicht hätte er geträumt, wie er auf einer Blumenwiese nackt einer Frau, die er nur vom Träumen her kennt, entgegenrennt und zum ersten Mal wäre er nicht aufgewacht, bevor er sie erreicht hätte.
"Ui-Ui-Ui, Schwester Ines, du hast Vorstellungen!", sagen die Kollegen, "im echten Krankenhaus, da geht es halt anders zu, als im unechten Krankenhaus, das man vom Fernseher her kennt."

Das weiß auch Schwester Ines, sie ist schließlich nicht deppert. Sie schaut dann ganz traurig, zieht an einer Milde-Sorte-Zigarette und sagt: "Aber warum?"
 


Später, wenn sie nach Hause kommt, wartet dort ein Hund auf sie. Ein Mann wartet dort aber nicht auf sie. Ist die Schwester Ines deswegen unglücklich? - Ja, schon ein bissi. Aber das ist auch das Normalste auf der Welt.
"Komm schon Bruno", sagt sie zum Hund und dann erzählt sie von den alten Männern, die schimpfen und sterben und Bruno bellt, weil er nicht reden will, sondern essen. Von da her ist er wie ein echter Mann, aber im Endeffekt ist er halt doch nur ein Hund, da kannst du nichts machen.
Schwester Ines kocht und redet daneben weiter. Da sind beide zufrieden. Dann gibt es Fernsehen. Die alten Männer und die Schimpferei machen einen müde, da kann man dann nicht mehr großartig etwas machen, da muss es schon Fernsehen sein. Auch das muss einen nicht wundern.
Bruno liegt neben Schwester Ines und es ist eigentlich ganz gemütlich. Es ist ein Leben, wo man sagen kann, wenn man sich ehrlich ist, es ist jetzt nicht voll geil, aber schon auch ok. In Afrika, denkt Schwester Ines, da haben sie nichts zu essen, wieso soll ich mich beschweren, und wenn sie das denkt, dann geht sie oft zum Kühlschrank und nascht vom Schokopudding, als Belohnung. Wenigstens denkt sie ernsthaft an die in Afrika, nicht nur zum Spaß oder weil es sich gehört. Sie denkt auch, dass die in Afrika trotzdem nichts zum Essen haben. Egal wie oft du an sie denkst, davon können sich die in Afrika nichts kaufen, das ist auch klar.
Öfter trifft Schwester Ines eine Freundin und sie reden und trinken Tee. Sie ist also nicht einsamer als die meisten Menschen. Schwester Ines hat auch schon Paare gesehen, bei denen jeder für sich einsamer war als sie. Einmal hat Schwester Ines einer Patientin gesagt, dass es besser wäre, wenn sie ihren Mann verlassen würde.
Da hat die Patientin gesagt: "Was verstehen sie denn davon? Sie Krampen!", und gemeint: "Ich kann nicht! Kann nicht! Kann nicht! Die Geschichte habe ich schon vor Jahren abgehakt. Die Geschichte, das ist meine eigene Lebensgeschichte - einfach so: abgehackt, in Scheiben geschnitten, in die Friteuse gehaut, mir selbst ins Maul gestopft und drei Tage später wieder ins Klo hinein geschissen - einfach so! Ich Krampen!"
Schwester Ines war aber nicht böse.

Eines Tages kommt ein Mann ins Krankenhaus. Er ist alt und hat Flecken. Wenn man an ihm riecht kann man sich schon denken, dass er bald einmal sterben wird. Wie er mit einem saueren Gesicht, halbtot schon, aufstehen und ans Fenster gehen will, ist Schwester Ines zufällig im Zimmer. Sie sagt: "Ruhig, ruhig, da bleibt ihnen sonst die Pumpen stehen wie nichts." Der alte Mann lächelt müde. "Danke, dass sie sich Sorgen machen", sagt er, "das ist lieb."

Dann in der Nacht, obwohl ihr Dienst eigentlich schon lange vorbei ist, sitzt Schwester Ines stundenlang bei ihm am Bett und liest ihm vor. Der Mann schläft, aber er kann sie trotzdem hören und Schwester Ines weiß, ihre sanfte Stimme wird schöne Bilder geben. Wie der Mann im Schlaf zu lächeln beginnt, beginnt auch Schwester Ines zu lächeln. Bald macht es wieder Piep, aber diesmal klingt es nicht so hässlich. Diesmal ist es eine Musik.
"So ist das Leben, so ist das Leben!" sagen da die Kollegen zu der Leiche von dem Mann. Schwester Ines sagt: "So ist das Leben nicht!" und da wacht der tote Mann für einen Augenblick wieder auf und zwinkert ihr zu. Da muss Schwester Ines wieder lächeln.

Schwester Ines, Schwester Ines, Schwester Ines - leicht ist es nicht im Leben, aber du nimmst es mit Humor. An diesem Tag singt ein Chor am Gang des Krankenhauses, es fliegen Girlanden durch die Luft und es duftet nach Cremeschnitte...

Wie sie der Schwester Ines dann ein paar Jahre später per Zufall draufgekommen sind, dass sie dem Alten einen Polster ins Gesicht gedrückt hat, da haben sie schön geschaut.
"Was? - Unsere Ines?" haben sie gefragt und dann wieder gesagt: "Ja, die Ines!" Und dann haben sie wieder gefragt:
"Was, die Ines - die Schwester-Ines-Ines?" und dann wieder gesagt "Ja - die Ines, die Schwester-Ines-Ines!" usw. usf.
So ist das über mehrere Tage dahin gegangen.
Haben sie die Schwester Ines angezeigt? - Nein.
Im Geheimen haben nämlich alle gedacht: So wie der Alte, genau so will ich auch einmal sterben. Auch, wenn mich dann eine wie die Schwester Ines dazu zwingen muss. Alles andere kannst du nämlich vergessen!


© Stefan Sonntagbauer (Wien 2011)

aus: "Neulich im Mittelalter"
Holzbaum Verlag Wien
ISBN 978-3-9503097-2-0, 114 S.

12 Kurzgeschichten voll von Schwarzem Humor,
Skurrilität und dem Sinn des Lebens.
Mit 8 Zeichnungen von Christoph Ameseder.

Buchbestellung
für € 14,90
   

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