Die
AbwärtsspiraleDas permanent gedemütigte Kind
erfährt in ersten Experimenten mit Alkohol, dass Schnaps den
Schmerz dämpft. Schließlich entstehen daraus sogar
Selbstbewusstsein und der Mut, die Regeln der dominanten Mutter, der
unfähigen Lehrerin oder der farblosen Pionierleiterin zu
brechen. Das geht nicht lange gut. Die neue Emanzipation, das Erleben
der ersten Liebe stellen nur Glück von kurzer Dauer dar.
Kritisch beäugen die Erwachsenen den selbstbewussten
Außenseiter. Man spürt, dass sie nur darauf warten, ihm
endlich etwas anhängen zu können. Es folgt eine endlose
Odyssee durch die Knäste. Die Wiedereingliederungsversuche
gelingen nicht.
Peter bleibt stigmatisiert.
Kinderprostitution,
häusliche Gewalt, KorruptionEs dauerte nach dem
Mauerfall lange, bis das Alltagsleben der DDR literarisch verarbeitet
wurde. Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Thomas Brussigs
»Wasserfarben«
oder Ingo Schulzes
»Simple Stories«)
konzentrierte sich die Erzählung auf die Verkettung humoriger
Anekdoten ohne literarischen Anspruch. Daneben gab es Versuche, die
andere Seite, das Widerstehen zwischen Kirche und illegaler
Druckwerkstatt zu beschreiben.
Jürgen Landt, selbst in Demmin
geboren, erzählt gekonnt aus einer anderen Perspektive, die
bisher kaum wahrgenommen wurde: Die Sicht eines so genannten
Außenseiters, der keinen politisch motivierten Oppositionellen
darstellt, sondern in einer von Uniformität geprägten
Gesellschaft einfach auf dem Recht der Individualität beharrt.
En passant schildert Landt in
»Der
Sonnenküsser« Kinderprostitution, häusliche
Gewalt, Korruption. Diese Beiläufigkeit erzeugt beim Lesen eine
Intensität, wie sie nur wenigen Erzählern gelingt.
»Die
Dinge sind nicht, wie sie scheinen«, formulierte William
Shakespeare. Oder moderner ausgedrückt: Demmin ist Twin Peaks.
Die Fratze des Bösen lauert aber nicht hinter den
kleinbürgerlichen Masken, sondern ist ihnen immanent. Demmin und
die DDR erhalten hier keine historische Funktion. Der äußerliche
und zeitliche Rahmen des Romans verschwimmt. Dadurch wird er zu einer
Allegorie, die sich problemlos übertragen lässt: Dort, wo
kein Raum mehr für Selbstbestimmung ist, herrscht bald der
Terror. Begriffe wie ›Außenseiter‹ oder ›asozial‹
stellen arbiträre Bezeichnungen dar, die bestenfalls etwas über
die Perspektive der Gesellschaft, aber nicht die menschliche Qualität
des Diffamierten aussagen.
Während im humanistisch
inspirierten Entwicklungs- und Bildungsroman der Fokus auf dem
Prozess des Protagonisten ruht, steht hier die Perspektive der
Gesellschaft zur Debatte. Eine Gesellschaft, die in sich zwar schon
modert, aber auch in ihrem Verwesungsprozess noch nicht fähig
zur Selbstreflexion ist. Stillstand, Stagnation, Perspektivlosigkeit.
Landt gelingt damit ein tragisches Moment doppelter Ordnung:
Scheitert Sorgenich an der Gesellschaft, so zerbricht diese an ihrer
kristallin-verlogenen Struktur. Ohne Sentimentalität und gerade
deswegen unmittelbar und aufwühlend.
»Der Sonnenküsser« von Jürgen Landt
Edition M,
Lambrechtshagen 2007, 336 S., € 18,80
Edition
M
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