Sylvestergeschichte
von Minja Woraceck
„Elisabeth, du treibst es auf die Spitze.
Es eskaliert", sagt Papa meistens kurz vor Ausbruch eines
Krachs. Ich weiß nicht, was „eskaliert" und
„auf die Spitze treiben" genau bedeuten, aber ich
weiß, dass danach etwas Schlimmes passiert, wenn Mama nicht
aufhört.
Heute ist Sylvester. Wir haben im Wohnzimmer
bunte Papiergirlanden von Wand zu Wand gespannt, Knallbonbons aus
Krepp-Papier und Knaller gekauft. Papa hat heute morgen vor den
Mülltonnen und Garagentoren Knaller und Heuler gezündet.
Er hat laut dabei gelacht. Wenn Papa lacht, habe ich keine
Angst.
Mama hat drei Raketen gekauft - für jeden
von uns eine nach Mitternacht, Goldregen, den mag ich am liebsten
und Sylvesterscherze - knallendes Pulver für Papas Zigaretten,
Juckpulver, Knallerbsen. Außerdem Berliner mit Zuckerguss und
roter Marmelade und Sekt. Es wird eine schöne Party werden,
eine Party zu dritt, wie immer – Mama, Papa und ich. Wir
werden Musik hören, tanzen, lachen, wie auf einer richtigen
Party. Ich freue mich.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist zwölf.
Mittags. Papa holt Bier und Schnaps aus dem Kühlschrank und
trinkt. Aus einem steinernen Bierkrug. Er trinkt schnell. Wenn der
Krug leer ist, holt er ein neues Bier aus dem Kühlschrank.
Dazwischen trinkt Papa auch aus dem kleinen Schnapsglas. Auf der
Schnapsflasche sind Äpfel. Wenn Papa den Schnaps trinkt, guckt
er an die Decke, aber die Augen sind geschlossen. Papa hat eine
rote Glatze mit weißen Haaren am Rand. Er trinkt den Schnaps
schnell. Das Glas ist gleich leer. Danach sieht Papas Gesicht aus,
als ob er Bauchschmerzen hat. Dann schüttelt er den Kopf und
trinkt viel Bier.
Ich mag den Geruch vom Schnaps nicht. Er
erinnert mich an Franzbranntwein, mit dem mich Mama einreibt, wenn
ich erkältet bin
Mama nervt: "Johann, hör bitte auf, es
ist noch früh. Bis Mitternacht ist noch viel Zeit."
Gleicht flippt Papa aus.
Papa trinkt weiter. Viele Gläser.
"Elisabeth, lass mich in Ruhe, ich kann
mehr vertragen, als du denkst. Ich lass mir hier nicht die Laune
verderben."
Papa trinkt weiter. Ich habe Angst, wie vor
einer Klassenarbeit, für die ich nichts gelernt habe. Meine
Beine werden weich.
"Sandra, geh ins Bett, ruh dich aus. Bis
Mitternacht ist noch viel Zeit", ruft Papa. Seine Stimme
klingt komisch vom Schnaps. Ich kann ihn kaum verstehen. Wie ein
Blinder tapst er in der Küche herum, stößt gegen die
Tischkante, gegen einen Küchenstuhl, stolpert über den
kleinen Teppich im Flur und flucht.
Ich will keinen Mittagsschlaf halten. Nachher
flippt er aus. Wenn ich schlafe, kann ich Mama nicht
beschützen.
Ich setze mich aufs Sofa vor den Fernseher,
wechsle mit der Fernbedienung von einem Programm zum anderen und
warte. Ich habe Schiss.
Langsam wird es dunkel, die Lichter im
gegenüberliegenden Hochhaus gehen an. Kleine Punkte, die die
schwarzen Fenster erleuchten. Dort werden die Leute bestimmt
feiern, lustig sein und fröhlich. Sie werden zusammen Blei
gießen und Besuch haben. Freunde, Cousins, Großeltern.
Die Kinder hinter diesen Fenstern werden keinen Schiss haben und
ihre Väter werden mit ihnen lachen und spielen wie in der
Fernsehreklame, denke ich. Oder Kevin, home alone.
Ich höre Papa in der Küche
herumpoltern und stammeln. „Elisabeth... Wo…bi.. bist..
du?"
Ich hasse es, wenn er so rumstottert.
Ich gehe nicht in die Küche. Ich starre
immer weiter in die Lichter und träume mich dorthin. In diese
friedlichen, glücklichen Scheißwohnzimmer mit diesen
scheißglücklichen Familien, die jetzt Blei gießen
und Karten spielen.
Es ist kurz vor Mitternacht. Die Knallerei wird
immer lauter. Ich gehe in mein Zimmer. Ich öffne das Fenster
des Kinderzimmers und stütze mich mit den Ellbogen auf der
kalten Fensterbank ab. Es riecht draußen nach Schwefel,
frischem Schnee und Kälte. Ich höre Böller und
Heuler auf der Straße, lachende und grölende Jungen.
Ich höre wie Papa Mama laut beschimpft.
„Du Miststück!"
Mama heult. Ich hasse das. Gleich geht’s
ab.
Ich schließe das Fenster und gehe in die
Küche. Papa schlägt gerade mit der Faust knapp an Mama
vorbei an die gekachelte Wand. Mama schreit, als würde er sie
gleich umbringen. Ich weiß, er tut es sowieso nicht. Sie
weiß es auch. Aber sie schreit. Mich nervt ihr Geschrei.
„Johann, hör auf! Bitte nicht! Das
Kind! Johann!", schreit die Mama.
„Das Kind!"
Es geht nicht um mich. Ich weiß das genau.
Sie schreit einfach.
Mamas schönes Gesicht ist plötzlich
hässlich. Wie eine Horrormaske. Zombie. Ihre Hände sind
auf ihrem Kopf. Sie bückt sich und schreit. Schreit laut und
lange. Gleich klopfen die Nachbarn.
Das Schreien nervt Papa noch mehr und dann
schlägt er noch einmal zu, mitten in das Gesicht von Mama. Das
Gesicht ist weit aufgerissen, wie im Film. Volle Kanne. Blut
läuft aus ihrem Mund, tropft auf ihr hellgrünes, seidenes
Partykleid.
Ich erstarre. Blutig hat er sie noch nie
geschlagen. Ich will schreien, Mama helfen, aber ich stehe da, wie
stumm und gelähmt.
In der Nacht träume ich von einer
großen, schwarzen, pelzigen Spinne, die sich auf mein Gesicht
setzt. Sie ist so groß wie mein ganzes Gesicht. Ich kann
wieder nicht schreien, mich nicht bewegen. Immer wieder träume
ich diesen beschissenen Traum. Jahrelang.
Mama läuft laut weinend ins kalte, dunkle
Treppenhaus, findet den Lichtschalter nicht in ihrer Panik. Auf dem
sandfarbenen Teppichboden leuchtet das Blut in kleinen,
blasenförmigen Flecken.
Papa schreit lallend hinterher: "Wehe du
haust wieder ab!"
Wohnungstüren gehen kurz auf und
schließen sich wieder.
„Der Säufer aus dem Ersten",
höre ich jemanden leise sagen. Wahrscheinlich Frau Bender.
Ich bleibe mit Papa zurück. Spucke tropft
aus seinem linken Mundwinkel. Sein Gesicht ist ziemlich dunkelrot,
aufgedunsen. Ich schaue auf die große Küchenuhr, das neue
Jahr ist gerade vier Minuten alt. Draußen höre ich
Feuerwerkskörper, Sektkorken knallen, Glocken läuten,
bunte Leuchtkugeln und goldene Palmen leuchten im schwarzen
Himmel.
Papa torkelt auf mich zu, hält sich mit
beiden Händen an der Kante des Küchentisches fest, wie
ein Spastiker. Seine Augen sind tot, wie die Glasaugen eines
Stofftieres. Er versucht, mich mit seinen schlaffen Armen zu halten
und lallt, Prost Neujahr, Kind. Oder so ähnlich.
Sein Atem riecht nach Bier und Schnaps. Was
sonst. Er rülpst laut und fällt wie eine
Schaufensterpuppe auf den Boden. Ich lasse ihn liegen. Er ist schon
oft umgefallen. Ich hasse das, aber er tut mir auch leid.
Ich gehe in mein Zimmer, nehme meinen alten,
abgewetzten Teddy Theodor, lege mich ins Bett und decke mich und
den Teddy zu. Die Laken sind feuchtkalt. Ich mache kein Licht an
und sehe aus dem Dachfensterchen. Bunte Kugeln und Palmen
erleuchten den Himmel, werfen hellen Schimmer an die Wände.
Ich höre Leute lachen und Heuler an meinem Fenster
vorbeiziehen. In der Wohnung über uns hören die Lehmanns
laut Musik, Boney M., so’n Scheiß, und stampfen mit den
Füßen. Ich rolle mich ein wie ein Embryo und drücke
den Teddy fest an mich.
„Ich hab dich ganz lieb. Ich lass dich
niemals allein. Niemals. Hörst du?" flüstere ich und
weine leise, bis ich eingeschlafen bin. Weinen hilft immer.
Am Neujahrsmorgen stehe ich früh auf und
esse einen Berliner. Es sind viele übrig geblieben und ich
habe keinen Einzigen gegessen. Ich packe meinen kleinen Rucksack
aus hellem Leder. Es riecht nach abgebranntem Feuerwerk und
abgestandenem Bier. Im Garten glitzert frischer Schnee. Es ist
total still. Die Schlafzimmertür ist offen. Ich sehe Papa
nicht zugedeckt auf der Überdecke im Bett liegen. Ein
rötlicher Fleischberg mit weißen Haarbüscheln und
halbgeöffnetem Mund. Er schnarcht. Neben dem Bett liegt eine
leere Bierflasche. Mama liegt nicht neben ihm. Habe ich auch nicht
anders erwartet.
Ich nehme Theodor, meine drei
Lieblingsbücher – „Pippi Langstrumpf",
„Grimms Märchen" und „Pünktchen und
Anton" - und mein Tagebuch.
Ich gehe zu Fuß zum Bahnhof. Zu Weihnachten
habe ich von Onkel Manfred fünfzig Mark bekommen.
Ich hau ab.
© Minja Woraceck