Poetry-Slam - "Torjubel"von Rainer Heiß
Goleo,
das halbnackte Maskottchen, das die Welt mit einem freundlichen
Hitlergruß nach Deutschland einladen wollte, liegt im Sterben.
Ist
das ein schlechtes Zeichen?
Haben
sich alle gegen uns verschworen?
Doch
zurück zum Ursprung:
Im
alten Rom haben die Kaiser ihre Untertanen ruhig gestellt, indem sie
im Colosseum kostenlose Spiele veranstalten ließen - Panem
et circenses
Dabei
haben entweder Gladiatoren gegeneinander gekämpft oder Christen
gegen wilde Tiere.
Das
konnte man noch nicht unbedingt als Breitensport bezeichnen, aber die
Funktion innerhalb der Gesellschaft ist durchaus mit heutigen
Sportereignissen vergleichbar.
So lange
deutsche Väter in ihren ausgebeulten Jogginghosen Bier saufend
vor dem Fernseher sitzen und Fußball schauen, sind sie weg von
der Straße und kommen nicht auf dumme Gedanken: Frauen und
Kinder haben ihre Ruhe und die Politik kann derweil auch treiben, was
sie will. Draußen werden Steuern erhöht und Löhne
gesenkt, drinnen wird um passives Abseits debattiert.
Es
wird gestritten, ob es gut war, Odonkor mitzunehmen und stattdessen
Kevin allein zu Haus zu lassen. Das heißt, ganz allein ist er
ja nicht, er könnte zu Sportskamerad Wörns ziehen, der hat
so einen Tonfall in der Stimme, als könnte ihm das gefallen.
Höhepunkt
der Massenhysterie ist alle vier Jahre die WM. Und dieses Mal sind
wir die Gastgeber. Die Euphorie ist riesengroß, oder, wie es
der Bundesklinsi ausdrückt:
Das
sind Gefühle, wo man schwer beschreiben kann.
Wie
wir zu Gastgebern wurden?
FIFA-Chef
Sepp Blatter hat sich in dem für ihn typischen völligen
Realitätsverlust den Großen unter den deutschen
Sportfunktionären gestellt, hat aber erwartungsgemäß
gegen Gerhard Mayer-Vorfelder in der Kategorie volltrunken zu
unpassender Gelegenheit und gegen Franz Beckenbauer in der
Kategorie Sekretärinnen auf der Weihnachtsfeier haushoch
verloren.
Franz,
wir danken dir!
Die
Folgen?
Am
größten war der Jubel unter den Funktionären des DFB
selbst, hat man doch als Ausrichter einer WM automatisch Anrechte
auf Schmiergelder in Millionenhöhe erworben.
Neben
den alten, dicken Männern im DFB, die größtenteils
selbst nie Fußball gespielt haben, jubelten auch die
Sponsoren, denn sie sind die einzigen, die ohne Schwierigkeiten
Karten bekommen, außerdem ist die WM ein prima Aufhänger,
uns in wertlosem WM-Accessoires-Müll zu ersticken.
Wir
werden nun trotz der bescheuertsten Kampagne seit Menschengedenken
für kurze Zeit alle Deutschland sein.
Wir
werden scharf angebratenes Gammelfleisch fressen, und es wird uns
egal sein. Die Frühjahrsloch-füllende Vogelgrippe haben wir
eh längst vergessen, wir werden dieses Mal auch keine halbe
Milliarde Euro an Katastrophenopfer in Südostasien spenden.
Massensterben an Weihnachten, das rührt uns, Erdbeben kurz vor
der WM – das ist einfach blödes Timing. Wir sind zurzeit
am falschen Ende unserer Emotionsskala und daher unempfänglich
für die Sorgen der Dritten Welt.
Außerdem
forsten wir ja bereits dank Krombacher von unseren Wohnzimmersofas
aus den Regenwald wieder auf. Das muss genügen!
Beim
Bittstellen um Eintrittskarten haben wir obendrein den
Bundesnachrichtendienst fleißig mit unseren privaten Daten
gefüttert, sodass die sympathische West-Stasi aus Pullach keine
journalistische Hilfe mehr benötigt, um uns alle
auszuspionieren.
Franz,
wir danken dir!
Wir
haben jetzt in Deutschland die besten Fußballtempel der Welt,
nur leider sind sie während der WM für den Otto-Normal-Fan
zu No-go-Areas erklärt worden.
Die
WM findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Wir
dürfen uns die Spiele mit ein bisschen Glück und einem
aktuellen Unbedenklichkeitszeugnis des Innenministeriums auf
Großbildleinwänden anschauen.
Was
haben wir nur falsch gemacht?
Franz, wir danken dir!
Wer
also überhaupt darauf verzichten will, die WM anzuschauen, der
darf sich lediglich mit unverzichtbarem Fanzubehör eindecken.
Wir sind schließlich auf reflexartiges Konsumverhalten
konditioniert und können endlich wieder für viel Geld
völlig sinnlosen Ramsch erwerben:
Es
gibt Fußballuhren, Fußballhüte, Fußballburger,
Fußballtassen, Fußballgläser, Fußballsocken,
Fußballunterhosen, Fußballrucksäcke,
Fußballkuchenformen, Fußball-Soda-Club,
Fußballpostkarten, Fußballflaggen, Fußballwörterbücher,
Fußballschweißbänder, Fußballminisalamis,
Fußballbettlaken, Fußballstrandtücher,
Fußballregelkurse für aufgeschlossene Partnerinnen,
Fußballzelte, Fußballservietten, Fußballpappteller,
Fußballschlüsselanhänger, Fußballbierdeckel,
Fußballtopflappen, Fußballpräservative
und
und und
Wer
will da nicht spontan --- zugreifen?
Franz, wir danken dir!
Das
Mega-Sportereignis erleichtert aber nicht nur unsere Geldbeutel.
Es
wird auch zur Entspannung der partnerschaftlichen Sexualrituale
kommen, die für gewöhnlich so ablaufen:
Der
Beischlaf wird meist unter dem Einfluss von Alkohol ausgeführt,
verläuft angestrengt routiniert, und danach ist sie
aufdringlich und er müde, und es endet damit, dass er
sich zur Seite dreht und ihr die Bettdecke wegzieht.
Das
muss nicht sein, denn wer alle Spiele sehen will, der kann das
lediglich im ORF, und zwar zu so später Stunde, dass das eben
geschilderte Ritual offiziell ausgesetzt werden darf.
Franz, wir danken dir!
Zum
Wesentlichen, denn nicht nur der Fachmann weiß: Wichtig ist
auf´m Rasen!
Es
ist bisher ja gerade noch einmal glimpflich abgelaufen!
2
: 2 nach 0 : 2.
Gegen
Japan.
In
der Nacht nach dem Japanspiel haben sich Millionen deutscher
Fußballfans unruhig im Bett gewälzt, darüber
nachsinnend, ob sich die gute Stimmung nach dem Luxemburgspiel
überhaupt gelohnt hat, ob sie gerechtfertigt war.
Zur
echten, unverfälschten Freude brauchen wir in Deutschland einen
rationalen Grund. Zuvor muss gründlich abgewogen werden, und
wenn die Sachlage mehrmals gut durchanalysiert ist, und sich dabei
nichts findet, was dagegenspricht, wenn man sich im Bekanntenkreis,
in der Familie und in der Arbeit umgehört hat, und man auch dort
eine gewisse Bereitschaft zur Freude festgestellt hat, dann, aber nur
dann, kann man sich auch mal ein bisschen freuen.
Wenn
wir in Deutschland allerdings erst einmal anfangen, uns zu freuen,
kann das leicht außer Kontrolle geraten, schließlich sind
wir darin nicht so geübt.
Es
kann dann passieren, dass das ganze Land in rauschhafte Euphorie
abgleitet.
Nach
dem letzten WM-Sieg 1990 mussten wir feststellen, als wir wieder zur
Besinnung gekommen waren, dass wir uns quasi parallel dazu mit einem
fremden Land aus dem Ostblock vereinigt hatten, für das wir
seitdem und in alle Zukunft zahlen müssen.
Franz,
wir danken dir!
Besorgnis
wegen rasender Euphorie müssen wir dieses Mal aber nicht haben.
Selbst
das verkrampft-verlogene Dauergrinsen des Profilächlers
Klinsmann kann nämlich nicht darüber hinwegtäuschen,
dass wir unsere sportlichen Ziele nicht allzu hoch stecken sollten.
Was
soll aber auch schon dabei herauskommen, wenn unsere halbe Mannschaft
mittlerweile aus dem Warschauer Pakt stammt?
Minimalziel
muss aber trotz allem bleiben: Wir dürfen erst nach Holland
ausscheiden!
Obwohl
wir uns am 9. Juli so und so an Straßen und Flughäfen
postieren können um vielstimmig zu singen:
So
bliebe dabei doch ein fader Beigeschmack, wenn wir selbst bereits in
der Vorrunde ausgeschieden wären.
Bis
zum Anpfiff sollten wir alle für uns im Stillen noch folgende
Fragen beantworten:
Fehlt
uns etwas, wenn wir beim Grillen im Garten kein Telekom-Trikot
anhaben?
Ist
die abendländische Kultur erst vollkommen, wenn wir unsere
Gesichter schwarz-rot-gold angemalt haben?
Ist
es ein Indiz für den Gipfel der Evolution, wenn sich in einem
unendlichen Universum auf einem unbedeutenden, erkaltenden Planeten
eine Lebensform entwickelt hat, die nach Jahrmillionen schließlich
mit Viererabwehrkette spielt?
Unser
Maskottchen ist giftig, pleite und immer noch ohne Hosen.
Wer
sich nämlich am Dienstag in den Zeitungen durch die
Nebensächlichkeiten gekämpft hatte, der musste nun auch
noch erfahren, dass Goleo giftige Weichmacher enthält, die Krebs
erzeugen und die Fruchtbarkeit mindern.
Deutsche
Elf – schlappe Kicker.
Deutsche
Fans – schlappe --- Fans
Franz,
wir danken dir!
Gute
Nacht - und
Auf Wiedersehn
© Rainer Heiss 2006 (Poetry-Slam Juni 06 im Löwenhof, Schongau)
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