Schnipsel

Ein Fenster nach Westen

von Patricia Vohwinkel

(aus dem Kurzkrimi-Band "blutnacht - nachtblut")

Sie haben es mir versprochen, wenn ich ja sage.

Nach Westen. Es war nicht einmal eine Lüge. Am westlichen Ende der Stadt, wo man noch immer bemooste Überreste der mittelalterlichen Wehrmauer finden kann, lag meine Wohnung. Ich habe dort lieber gelebt als an dem Ort, an dem ich jetzt bin, aber manchmal kann man sich nicht aussuchen, wohin das Schicksal einen trägt.
Niemand kann das. Das habe ich auch immer gewußt. Immer gesagt. Auch ihm. Es gibt größere Zusammenhänge, höhere Pläne als die endlichen Vorstellungen. Das ist Bestimmung, und es ist gut.

Nach Westen, wo die Sonne untergeht. Ich habe es immer gern gesehen, wenn der Tag sein Licht auslöscht. Wenn sich die letzten dunklen Wolkenfetzen gegen das diffuse, bereits verblassende Abendrot absetzen, bis ihre Konturen sich im tiefen Schwarz des Nachthimmels verlieren. Nachts ist der Himmel tiefer als am Tage. Man denkt, man könnte eintauchen, ganz ohne Widerstand, ganz ohne Strafe, aber das ist trügerisch.

     
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Edition Treves
128 Seiten

Jetzt habe ich ein Nordfenster. Es ist hoch und schmal Das ist nicht gut.

Ich bin nach Westen gegangen. Sucht mich nicht. Das war eine gute Idee. Niemand würde nach mir suchen. Niemand würde einen Menschen mit einem solchen Ziel suchen. Natürlich nicht. Da konnte ich sicher sein.

Es war einer jener spätsommerlichen Abende, an denen man die Überreife der Natur riechen kann. Spätsommer. Ich hasse das Wort Frühherbst.

Vielleicht hat er gewußt, daß ich an diesem Freitagabend zu ihm kommen würde. Vielleicht hat er es eher gewußt als ich.
Das geht mir manchmal so. Ich erst weiß, wo ich hinwollte, wenn ich angekommen bin.

Vielleicht ist mir der Weg aber auch so schwer gefallen, weil ich gen Osten laufen mußte. Sei ruhig, habe ich mir gesagt, ruhig. Manchmal muß man in die entgegengesetzte Richtung losgehen, um im Westen anzukommen. Aber es führt dorthin. Alles führt dorthin. Manchmal sogar früher, wenn man es nur will.

Ich hörte meine Schritte auf dem Asphalt.

Schritt. Herzschlag.

Immer abwechselnd, im Gegenrhythmus.

In dieser Nacht würde ich es wagen. Schritt. Seine Haut berühren. Herzschlag. Seine Hände würden an meinem Körper hinabgleiten. Schritt. Widerstandslos. Herzschlag.

Ich würde seine halbgeschlossenen Lider küssen. Schritt.

Er würde mir gehören. Herzschlag.

Laute Geräusche stören mich. Irritieren meine Stille. Ich kann sie körperlich fühlen. Das macht mich wütend.
Die Klingel an seiner Wohnungstür machte mich wütend. Wie sie in die Stille hineinschnitt. So wie das Licht mich wütend machte. Helligkeit. Laute Helligkeit mit scharfen Umrissen.Aber ich kontrollierte mich gut.
Kalter Schweiß lief zwischen meinen Brüsten herab. Wenn ich mich gut kontrolliere, vergesse ich manchmal, wo ich bin. Es ist dann, als ob eine gewisse Zeit gar nicht stattfindet.

Ich kontrollierte mich sehr gut, um nicht noch wütender zu werden.
Kontrolle und Erwartung. Seine widerspenstige Locke würde ihm ins Gesicht fallen, wie ich es schon so oft beobachtet hatte.
Von weitem. Und diesmal würde er sie nicht zurückstreichen. In zwei Spiralwindungen würde sie ihm biszu seinem linken Mundwinkel reichen.

Ich kontrollierte mich wirklich sehr gut und war gar nicht so wütend.

Ich bin kein impulsiver Mensch. Ich mache immer alles ganz planvoll.
Niemals spontan. Das kann man an mir lieben. Ich bin niemals laut. Ich schreie nie. Oh ja, das würde er an mir lieben.
Meine Langsamkeit. Meine Beharrlichkeit. Langsam und stetig würde ich sein weißes Fleisch streicheln. Kontrolle.

Mit heißen Händen umfaßte ich das Glas. Wasser. Nur Wasser, hatte ich gesagt und ihn damit hinausgeschickt. Das war klug, denn schließlich weiß ich, was all diese Zusätze, die man Getränken beimischen kann, im Körper bewirken. Nur Wasser.

Ganz ruhig ging ich um den Tisch herum und setzte mich in
den Sessel, der dem Fenster zugewandt war. Ein Westfenster. Das wußte ich natürlich, obwohl es längst dunkel war. Ich habe ein Gespür für Himmelsrichtungen. Auch in geschlossenen Räumen.

Manchmal verging die Zeit sehr schnell, ohne daß ich es merkte. Als das Glas auf dem Steinboden zerbrach, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Ich mag es nicht, wenn etwas kaputt geht, in Stücke bricht. Alles muß ganz sein. Keine Spuren von Zerstörung. Kontrolle. Erwartung.

„Ich hole ein Tuch,“ hörte ich mich sagen. In der Küche war es warm. Hier konnte ich solange bleiben.

Erwartung. Verlangen.

Nun durfte ich mir erlauben, daß mein Atem schneller ging. Ich öffnete die Knöpfe meiner Bluse, bevor ich zu ihm ins Zimmer zurückkehrte. Ich nahm mir Zeit, um für die Blumen, die ich mitgebracht hatte, eine Vase zu suchen. Weißes Porzellan. Ich liebe es, wenn Dinge, die man zusammenstellt, Ton in Ton zueinander passen. Ineinander zerfließen. Die schweren Lilienkelche hingen über den Rand des Gefäßes, als wollte der Nektar jeden Moment heraustropfen und die Blüten leer zurücklassen.

Seine Umarmung nahm mir den Atem. Ich konnte nicht aufhören, mit meiner Zunge seine kühlen, weichen Lippen zu lecken, bis sich sein Mund öffnete, und ich ihn tiefer küssen konnte. Ich fühlte seine ebenmäßigen Zähne, deren Perlenreihen ich auseinanderdrängte, während er schwer auf mir lag. Verlangen. Wie sehr hatte ich mich immer danach gesehnt, seine Haut auf meinem Körper zu spüren. Ihn schwach werden zu wissen. Seinen Widerstand zu brechen, bis endgültig ich alle Kontrolle besaß. Wollust. Seinen Blick ins Leere zu genießen, wenn ich auf ihm war. Die bleiche Haut seiner Taille zu küssen. Mein Körper gebärdete sich wie wahnsinnig, während er ganz atemlos dalag. Niemals sollte das hier vergehen. Kein Morgen.

Ich legte seine Hände auf meine Brüste und fühlte begierig, wie sich meine Brustwarzen unter dem sanften Druck des Gewichts aufrichteten. Natürlich wußte ich, wie man das machen konnte. Ich weiß mit ungewöhnlichen Situationen umzugehen. Jemand wie ich muß wissen, wie man sich hilft.

Mit Geschick und der Gewißheit von endgültigem Besitz.

Ich schrie nicht, als der Lustschmerz meinen Körper erfüllte. Ein wenig stöhnte ich vielleicht. Aber nicht laut. So lange hatte ich mir diese Nacht gewünscht, mir diesen Augenblick vorgestellt, in dem er mir endlich ganz gehörte.

Die Bilder meiner Träume verblaßten bereits gegen das, wasich fühlte. Als ich kam, war es mir, als sähe ich ein Lächeln auf seinen Lippen. Ich stöhnte noch einmal, preßte ihn an mich und fühlte seinen Atem entweichen. Nicht viel.
Gerade soviel Atem, wie es bedarf, um eine Kerze auszuhauchen.

„Ja, ich habe es getan. Er hat es gleich getrunken, das Gift. Gierig und tief wie der Himmel in der Nacht. Kaum fünf Minuten, nachdem er mich in seine Wohnung gebeten hatte.“

Ein Fenster nach Westen. Sie haben es versprochen, wenn ich gestehe.

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© Patricia Vohwinkel

Aus dem Kurzkrimi-Band "blutnacht - nachtblut"
trèves krimi, TB, 128 Seiten

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