Der alte WachmannKurzkrimi von Peter MüllerKurz vor seiner Rente stehend, begann er gerade seinen letzten Rundgang in der zu dieser Zeit nur spärlich beleuchteten Leichenhalle, als er ein leises Wimmern vernahm ... Es kam offenbar aus der hintersten Ecke. Hatte er sich verhört, oder? Er wartete, zog langsam seine alte Taschenuhr an der Kette hervor. Fahles Mondlicht drang durch die schmalen Fester des Oberlichtes und fiel auf das Zifferblatt - Null Uhr! Ihn fröstelte, nicht nur wegen der Kühlhaustemperaturen ... da war wieder dieses Geräusch, nein er hatte sich nicht getäuscht, es kam von tief aus dem Raum. Er überlegte was er tun sollte ... So weit hatte er sich bisher noch nie vorgewagt, schon allein der Geruch verursachte Übelkeit. – Sollte er wirklich an all den abgedeckten Leichen vorbei, dorthin wo es am dunkelsten war? Einen Lichtschalter gab es hier nicht, er hätte erst wieder zurück in die Schaltzentrale um dort ... Nein, er überwand sich. Der Strahl seiner Taschenlampe strich über die mit weißen Tüchern abgedeckten Kadaver auf den Rolltischen. Einige erschienen prall gefüllt, andere verhüllten nur leichte Körperfülle. Mehr als die Hälfte des Raumes hatte er schon hinter sich gelassen als der Strahl seiner Lampe wie von fremder Hand gesteuert auf ein besonders prall gefülltes Tuch fiel. Ihn beschlich ein eigenartiges Gefühl. Seine Nackenhaare sträubten sich, ja sie richteten sich immer mehr auf, als er mit vorsichtigen, winzigen Schritten näher trat. Wer auch immer unter dem weißen Tuch lag, er atmete schnell und wimmerte leise. Sein Herz stockte, pochte, raste - eine pure, urtümliche Angst überfiel ihn, Schweiß trat auf seine Stirn. Was würde ihn erwarten? Das Tuch anzuheben wagte er nicht, schweißgebadet ging er langsam zum Ende der Bare. Ein rechter Fuß schaute etwas hervor, am großen Zeh befand sich ein Zettel mit Namen, Datum ... 15.04 - das war vor vier Tagen. Der Mann wurde vor vier Tagen für tot erklärt und atmete noch immer? Konnte das mit rechten Dingen zugehen? Er versuchte sich zu beruhigen und vor allem zu beherrschen, so gut es eben ging. Am liebsten hätte er alles stehen und liegen gelassen - nur weg von all dem ... aber, nein, es war doch seine Aufgabe hier. Vorsichtig griff er nach dem Zettel. Der Fuß war eiskalt. Er schob das weiße Tuch vom Bein etwas beiseite. Aschfahl und bläulich verfärbt schimmerte die Leichenhaut. Er kannte diesen Anblick, auch wenn er ihn immer wieder mit Abscheu und Ekel erfüllte. Wirre Gedanken begannen ihn zu überfluten. Geschichten von Untoten und Vampiren durchrasten sein Hirn, von Außerirdischen die tote Körper für ihre Versuche verwendeten und ihnen hinterher wieder neues Leben einflössten. Vor seinem geistigen Auge entstanden Untoten und Vampiren, auferstehende Monster ... gleich würde sich alles aufklären, doch irgendetwas hinderte ihn, er konnte sich nicht überwinden dieses weiße Tuch völlig zurückzuschlagen ... Täuschte er sich, oder hatte sich unter dem Tuch etwas bewegt? Was, wenn sich der Tote plötzlich aufrichtete und ihn angriff? Oder wenn es gar kein Toter war? Er griff nach seiner Waffe, löste den Riemen, zog sie heraus und entsicherte sie vorsichtig, immer versucht kein Geräusch zu machen, für alle Fälle ... Er hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als etwas Furchtbares geschah. Das weiße Tuch bäumte sich auf, kam auf ihn zu, er drückte ab, zweimal, dreimal, immer wieder, bis das Magazin leer war und nur noch ein leises metallenes Klicken ertönte. Nun erst, hinterher, nahm er wie in Zeitlupe wahr das aus jeder der Einschussstellen im Laken Blut spritzte, helles, frisches, rotes Blut ... es spritze an die hintere Wand und verteilte sich auf dem Boden. Das war zu viel ... in wenigen noch bewussten Sekunden raste es ihm durch den Kopf: Wie kann eine vier Tage alte Leiche so teuflisch bluten? Sein Herz raste wie wild, er schnappte nach Luft. Bunte Ringe tanzten vor seinen Augen, er suchte einen Halt, wollte nach dem blutig durchlöcherten Tuch greifen und brach neben der Bare mit einem Aufschrei zusammen. Zu spät! - In diesem Augenblick hätte sich alles aufgeklärt - doch erlebte er diesen Augenblick nicht mehr ... Die zweite Mordkommission, durch die frühe Reinigungskolonne alarmiert, kam überraschend schnell. Ein Verbrechen mit zwei frischen Toten in einer Leichenhalle war schon etwas besonderes. Keiner der Beamten hatte jemals so etwas erlebt. Ja, der alte Wachmann, auf dem Boden liegend, war tatsächlich tot. In seiner Hand hielt er noch immer seine Waffe krampfhaft umklammert, sein Gesicht war unnatürlich verzerrt, sein Mund aufgerissen, mit Resten von Schaum in den Mundwinkeln und seine Augen schreckhaft geweitet. Als der Inspektor das blutige Leichentuch abnahm zuckte er irritiert zusammen, fing sich aber gleich und sagte beruhigend: "Das hier ist kein Verbrechen! Es gibt auch keinen zweiten Toten!" Als seine Kollegen hinzutraten, verstanden auch sie es ... der treue Hund des seit vier Tagen toten Mannes hatte unter dem Tuch auf seinem Herrchen gesessen. Wie das geschehen konnte wird wohl für immer ein Rätsel bleiben. Jedenfalls hatte der Wachmann diesen Hund mit sechs Kugeln erschossen ... ehe er selbst einem Herzinfarkt erlag. © Peter Müller
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