Schnipsel

Wenn du es kommen siehst…

Kurzgeschichte von Nadine d’Arachart & Sarah Wedler

Im Spülstein verlaufen die dicken, roten Tropfen zu kleinen Bächen. Ich presse den Handrücken auf meine Nase und muss einen ganzen Schwall Blut schlucken. Das Klopapier, das ich mir ins Gesicht drücke, saugt sich voll und mir wird vom metallischen Geruch meines eigenen Blutes schlecht. Ich frage mich jetzt schon, wie ich mein T-Shirt wieder sauber kriegen soll, blinzle den Tränenschleier weg und suche nach Seife oder Shampoo. Alles was wir haben ist eine verstaubte Flasche Duschgel, deren gelbes Etikett sich an den Seiten einrollt, als ob es davonlaufen wollte. Nach der Anwendung fühlen Sie sich frisch und belebt. Klar. Hilft das Zeug auch, wenn einem mit voller Wucht der Nasenrücken ins Gehirn gerammt wurde?
Draußen, im Rest der Wohnung, ist schon wieder Stille eingekehrt. Wenn man sich erst gut genug kennt, werden Gespräche unnötig. Meine Eltern sind seit dreißig Jahren verheiratet und haben das Reden schon lange aufgegeben. Ich war ein Unfall, eines dieser Kinder, die eigentlich nicht kommen sollten. Aber dann, wie es manchmal so läuft im Leben, riss das Gummi und die Sache blieb so lange unbemerkt, bis es für eine Abtreibung zu spät war. Und schon war ich Teil dieser Welt und alle seufzten: „Na den hätte's ja nicht gebraucht“. Sechs Jahre später kam mein Bruder Basti auf die Welt – er war ein Wunschkind.
Aber was soll’s? Jetzt bin ich nun mal da und muss das Beste daraus machen. Ich habe mal gelesen, dass Backpulver gegen Blutflecken helfen soll, doch ich habe keine Chance, an welches ranzukommen. So kann ich unmöglich nach draußen gehen, um einzukaufen und ich bezweifle, dass meine Mutter welches hat - ich habe sie noch nie backen gesehen. Vielleicht fehlen ihr die Anlässe dazu, vielleicht sieht sie es auch bloß nicht ein für so einen verkommenen Haufen, wie sie uns gerne nennt, zu backen.
Also bleibt mir nur das gelbe Duschgel. Während ich schrubbe, summe ich die Mondscheinsonate, gehe im Kopf die Noten durch und der Streit mit meinem Vater tritt langsam in den Hintergrund. Eigentlich war es gar kein richtiger Streit – mehr ein Schlagabtausch.
a-d-f-a-d-f
Er hat erst heute gemerkt, dass ich gestern Geld aus der Haushaltskasse genommen habe. Er wird alt – früher hat es keine Stunde gedauert, bis es was gesetzt hat. Vor gut vier Wochen habe ich angefangen, zurückzuschlagen. Ich habe geglaubt, das würde meinen Vater vielleicht einschüchtern, aber er hat nur gelacht, ist vor mir durch den Raum getänzelt wie ein Boxer im Ring und hat eine große Show aus der Sache gemacht.
b- es -g, mit Dramatik in der Bindung
Die einzige Zuschauerin war meine Mutter. Basti war zum Glück noch in der Schule. Wenn er zu viel von dem mitbekommt was hier läuft, nässt er ins Bett und wenn er das tut, ist er Vaters nächster Sparringspartner. Ich halte das nasse T-Shirt gegens Licht. Die Blutkleckse sind ganz hell geworden. Wenn Angela mich nachher fragt, werde ich einfach erzählen, dass ich mein rostiges Fahrrad poliert habe. Oder dass es Spaghetti mit Tomatensoße gab. Wenn sie erfährt, wie es bei uns zu Hause läuft, wird sie sicher irgendwen her schicken. Dann erfahren meine Eltern, wofür ich das Geld aus der Haushaltskasse nehme und mit meinen Besuchen bei ihr ist endgültig Schluss. Also muss ich Geschichten erfinden – Geschichten, die friedlich und nach Mittagessen und Fahrradtouren klingen. Ich bin zufrieden mit meiner Ausrede, wringe mein T-Shirt aus und lege es zum Trocknen über die Heizung. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigt mir, dass ich aussehe wie ein Clown. Ich weiß nicht, wie ich Angela das erklären soll. Es gibt ein Babyfoto von mir, da ist meine Nase ähnlich dick und rot. Meine Eltern erzählen, immer wenn jemand fragt, ich sei vor einen Schrank gekrabbelt. Vielleicht benutze ich diese Ausrede nachher auch. – nur ohne das Krabbeln. Ich bin froh, dass ich mich an meine Zeit als Baby nicht erinnere, denn ich kann mir gut vorstellen wie es war den ganzen Tag vor sich hin zu dämmern, hinter Rollos, die meine Eltern nie ganz hoch lassen, im dichten Qualm den sie ausstoßen, zwischen ihren ewigen Streitereien. Alles was du als Baby tun kannst, ist heulen. Ich werde bald sechzehn. Mit fast sechzehn hat man längst Wege gefunden, um anders klar zu kommen.

Als ich das Bad verlasse schlägt mir die typische Atmosphäre einer Großfamilie entgegen, die dem Alltag resignierend gegenüber steht. Meine Mutter sitzt am PC und klickt mit monotonen Bewegungen auf der Mouse herum. Mein Vater steht mit einer Bierflasche auf dem Balkon. Sein Kopf ruckt herum, als er die Badtür hört und er fixiert mich mit seinen kleinen Augen, in denen das Weiße mittlerweile gelb geworden ist. An seiner Unterlippe prangt eine dicke Kruste und als ich sehe, dass Tränen in seine Augen treten, fliehe ich in die Küche. Wenn Basti aus der Schule kommt, braucht er etwas Warmes. Meine Mutter hat längst aufgehört zu kochen und meine Schwestern sind beide nicht zu Hause.
„Aber mach nicht wieder alles dreckig.“ Mutter sieht nicht mal von ihrem idiotischen Computerspiel auf, um mir Vorhaltungen zu machen. Wahrscheinlich ist ihr mein Anblick unangenehm.
Es dauert eine Weile, bis ich einen sauberen Topf gefunden habe, denn wenn sich meine Mutter einmal aufrafft, um Essen aufzuwärmen, hat sie danach keine Lust mehr sauber zu machen. Ich verdränge das Klicken der Mouse und das Schluchzen meines Vaters und versuche, mich ganz auf nachher zu konzentrieren, während ich den Topf mit Wasser fülle.
Ich trommle den ruhigen, schweren Rhythmus der Mondscheinsonate auf dem Deckel des Nudeltopfes und beginne, die Geschehnisse von vorhin zu vergessen, als mein Vater plötzlich in der Tür steht. Aus seiner Nase läuft Rotz, wie vorhin Blut aus meiner lief und das Gelbe in seinen Augen ist rot und glasig. Ich weiß, was jetzt kommt, aber ich will es nicht hören. Ich will nicht hören, dass er all das nur zu meinem Besten tut, weil er will, dass ich anders werde als er. Das weiß ich doch längst und ich werde anders als er. Werde ich das wirklich? …Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich an den Schlag denke, den ich ihm vorhin verpasst habe. Vielleicht fange ich auch irgendwann an zu trinken, um diesen ganzen Müll zu vergessen. Zeuge einen eigenen Sohn und heule ihn voll, dass er mal ganz anders werden soll als ich. Nein, ausgeschlossen. Ich bin doch schon unterwegs in eine andere Richtung, oder?

„Setz dich zu mir, Junge.“ Vater lässt sich auf einen der Plastikstühle fallen, die wir letztes Jahr gekauft haben, nachdem der letzte Stuhl einfach in sich zusammengefallen ist, als hielte er es hier nicht mehr aus. „Jetzt nicht“, antworte ich und bettle innerlich die Nudeln an, schneller weich zu werden.
Mein Vater knallt seine Bierflasche auf die Tischplatte. Vielleicht hat er die Wucht seiner Bewegungen nicht mehr im Griff, vielleicht will er auch einfach nur seine Worte unterstreichen. So oder so tue ich ihm nicht den Gefallen, zusammen zu zucken. Ich behalte die Melodie im Kopf, sehe sie vor meinem inneren Auge.
Mein Vater unterbricht den Fluss aus Notenlinien mit seiner lallenden Stimme. Er sagt, dass ich ihn doch verstehen muss. Dass er doch nicht einfach zusehen kann, wie ich immer wieder Geld aus der Haushaltskasse stehle. Er bietet mir sogar an, was vom Gemeinschaftstabak zu nehmen wenn ich eine rauchen will oder eine von seinen Bierflaschen, die er auf dem Balkon lagert. Ich frage mich, warum er sich jedes Mal aufs Neue mit mir versöhnt – ist das Losschreien und Zuschlagen schöner, wenn es ganz unvermittelt kommt?
Ich frage ihn nicht danach. Ich höre ihm auch nicht zu, als er auf mich einredet, blende ihn einfach aus wie ein lästiges Hintergrundgeräusch.
Es ist später Nachmittag und mein Bruder wird jeden Augenblick hier sein - keine Zeit für einen neuen Streit. Er soll an meiner Sturheit verzweifeln, sich noch mehr betrinken und dann ins Bett gehen. Dann bleibt nur noch Mutter, aber die ist ein harmloser Gegner.
„...mir nicht zu, verdammt noch mal??“
Erst jetzt merke ich, dass mein Vater immer noch redet. Wenn er sauer ist, wird seine Stimme heiser und hoch zugleich, manchmal klingt sein Gebrüll wie ein schiefes Sauflied. Ich schließe die Augen, während ich im Topf rühre. Stelle das andere Lied, das in meinem Kopf, lauter. Ein paar Jahre noch, sage ich mir. Dann bin ich für immer weg hier. Angela meint, ich habe Talent. Ich könnte Konzertpianist werden. Mein Musiklehrer, der mir den Klavierunterricht bei ihr vermittelt hat, meint dasselbe. Musik war immer das einzige Fach, in dem ich gut war. Ich mag es, Töne zu erzeugen, die anderen gefallen. Vater mag das Gegenteil.
Ich muss verpennt haben, wie er aufgestanden ist. Jetzt steht er neben mir, hält sich an der Anrichte fest und schlägt mir gegen die Schulter. Der Löffel fällt mir aus der Hand, die Sonate in meinem Kopf bricht abrupt ab. In Gedanken bete ich, dass es heute kein zweites Mal Schläge setzt. Meine Nase tut immer noch weh, das blutige Shirt ist noch nicht trocken und ich muss noch zum Klavierunterricht. Angela weiß nicht, was bei uns los ist, dass ich das Geld für den Unterricht stehlen muss. Wenn sie es wüsste, würde sie mich mit Sicherheit rauswerfen.
Mein Vater brüllt mich an, dass ich zuzuhören habe, wenn er mit mir spricht. Auf einmal kommt er mir gefährlich vor. Ich habe die Situation unterschätzt, habe mich zu sehr darauf verlassen, dass jetzt die große Entschuldigungsarie kommt.
Einen Schritt voraus sein, wie mit den Noten.
a- d – f – a – d -f Wenn du weißt was kommt, kannst du besser spielen.
„Hast du mich verstanden?“
Ich nicke. Mehr bringe ich nicht zustande. Und es ist zu wenig. Vater packt mich am Kragen und zieht mich heran. Der Wasserdampf aus dem Topf hüllt uns in feuchten Nebel. Er starrt mich aus seinen Eisaugen an und will von mir wissen, wofür ich das Geld gestohlen habe. Was soll ich sagen? Meine Eltern kennen keine Musik. Sie verstehen nicht, wie wichtig das Spielen für mich ist. Was es für ein Moment für mich war, als ich zum ersten Mal an dem großen, schwarzen Konzertflügel in unserer Schule saß und der Lehrer mir ein paar einfache Töne gezeigt hat. Sie würden dieses Gefühl nicht nachvollziehen können.
„Wofür stiehlst du unser Geld? Drogen? Irgendeine Schlampe, die du beeindrucken willst? Das ist es, he? Eine dahergelaufene, dreckige Schlampe!“
Ich schüttle den Kopf. Früher, als er noch einen Führerschein hatte, ist mein Vater illegale Rennen gefahren. Er kann schnell sein, auch im Suff. Er stößt den Topf zur Seite, das Wasser schwappt über, Tropfen verdampfen protestierend auf dem rot glühenden Ceranfeld. Heiße Wasserspritzer überziehen unsere Arme, während wir miteinander ringen, er mich anschreit und anspuckt und mir von seinem Atem übel wird. Sein Gesicht ist wutverzerrt, er ist ganz bleich vor Zorn. Er stößt mich davon, dann packt er meine Handgelenke. Ich spüre den Druck, doch ich bin wie gelähmt. Vielleicht ahne ich, was passieren wird. Doch ich kann nicht mehr reagieren. Als meine Hände die heiße Herdplatte berühren, fange ich an zu schreien. Es klingt unmelodisch und falsch.
b-es-g, mit Dramatik in der Bindung. Wenn du es kommen siehst, kannst du es besser spielen.

© Nadine d’Arachart und Sarah Wedler / Hattingen, 2012


   Soeben erschienen:

 

Die Muse des Mörders

Krimi von Nadine d’Arachart und Sarah Wedler
Labor Verlag, 304 Seiten
ISBN-13: 978-3902800039

• Rezension in "Pflichtlektüre"

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