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Schnipsel

- Aus dem Leben eines Toten -
Ein Zombie-Tagebuch


von Dominic Memmel

Denn Staub bist Du, und zum Staub wirst Du zurückkehren. (Genesis 3:19)


Diese Geschichte ist eigentlich gelogen, Kinder, aber wahr ist sie doch, denn mein Großvater, von dem ich sie habe, pflegte immer, wenn er sie erzählte, zu sagen: »Wahr muss sie sein, mein Sohn, sonst könnte man sie ja nicht erzählen.« Die Geschichte aber hat sich so zugetragen.

Ich möchte am Anfang beginnen, ich war ein Mensch.
Zumindest, ich muss einer gewesen sein, denn wenn ich in einen Spiegel blicke - ich meine eine Pfütze oder eine nasse, kalte Fensterscheibe, ein Geschäft, Aquarium für Puppen und Nerze, verklebt und verkrustet von eurem Blut - dann sehe ich etwas, das menschliche Züge hat. Eingefallene Züge, zugegebenen, ein lebloses, aschfahles Gesicht mit einer eingedrückten Stirn, toten Augen aus denen etwas Seltsames strahlt, das ich nicht beschreiben kann - und mit dem mittelschweren Dilemma eines abkömmlichen rechten Ohres wirke ich im Spiegel wie ein zu Fleisch gewordenes Selbstportrait des Vincent van Gogh. Ich kann mich nicht daran erinnern, aber doch, es ist ganz klar: ich war einmal ein Mensch.
Meine Gedanken setzten dort ein, als die beiden meiner Art, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin, von mir abgelassen haben, da ihnen totes Fleisch nicht schmeckt. Wenn Sie mich nach meinem bürgerlichen Namen fragen, den weiß ich nicht. Ich bin in einem weißen Bademantel aufgewacht, den ich noch heute trage, das ist das Einzige, und erst vier oder fünf Tage später und Kilometer von der Stadt entfernt kam ich überhaupt auf die Idee, mein vorheriges Leben zu erforschen. Ich stellte mir Fragen, auf die ich keine Antworten fand.
Sicherlich, ich weiß was ein Fernseher ist und wie man einen Videorecorder programmiert, ich kann rechnen, wenn euch das glücklich macht, und ich weiß was ein Mensch ist und wie er riecht. Doch würde ich diese Gedanken und Erfahrungen einem kollektiven oder ererbten Erinnerungsvermögen zuschreiben. Doch Erinnerungen? Persönliche Erinnerungen an das davor? Fehlanzeige, meine Freunde. Ich würde meine Mutter nicht erkennen, selbst wenn sie vor mir stehen würde, ich würde in ihr nichts als einen widerlichen, sich grotesk, gestelzt, ja, unnatürlich bewegenden Körper sehen, einen nach süßen Säften stinkenden Menschen, ich würde sie reißen! Die Zerstörung der Welt kann ich also nur aus Sicht des Löwen beschreiben, der gerissen hat, nicht aus der des armseligen Viehs!

Ich will von meinem ersten Mal berichten, dem ersten Menschen den ich riss. Zuerst erwachte ich. Es war wie eine Geburt.
Ich war nicht alleine, wie ich schon sagte, denn zwei meiner Art waren über mir und ließen eben, als ich erwachte, von mir ab, denn totes Fleisch schmeckt uns nicht. Diese Zwei waren übel verstümmelt. Dem einen fehlten beide Beine, der andere war blind, und doch hatten sie mich erwischt! Sie hatten die Tür aufgebrochen, als ich geschlafen hatte, und ich hatte sie entweder nicht bemerkt - was ich mir nur schwerlich vorstellen kann - oder mein Entsetzen hatte alle meine Muskeln und Gelenke in vertrocknete Grütze verwandelt, so dass ich wohl oder übel eine halbe Minute in meinem Bett gesessen haben musste, das drohende Unheil vor Augen, ohne auch nur die geringsten Maßnahmen zur Selbstverteidigung zu ergreifen, ich muss ein schwacher Mensch gewesen sein. Ich hatte wahrscheinlich dagesessen und geschrieen, und die beiden hatten es sich unbehelligt schmecken lassen, bis ich dann endlich gestorben und wieder auferstanden bin, wie euer Jesus, am Kreuze und in der Kammer.
Ich ließ sie links liegen, denn sie waren langsam, uns so eilte ich durch eine fremde Wohnung in ein fremdes Treppenhaus. Die Lichter waren kaputt, ein hängender Leuchter spuckte Funken, und eine Leiche hockte am nächsten Fenster und hatte mit ihrem Blut das ganze Glas besudelt, so dass sich ein diesiges, rotfleckiges Licht über die Treppen ergoss. Es war ein altes Haus.
"Hallo, wer bist du?"
Ich war ruhig gewesen, das kann ich Euch versichern. Ein gewisses Interesse an der Szenerie hatte meine Sinne geschärft und ich nahm alles tief in mich auf. Ihr dürft nicht vergessen, ich war eben erst geboren worden und die Welt war voller Wunder. Lange Zeit stand ich nur da und beobachtete die Funken, die in hohem Bogen aus dem Deckenleuchter stoben, tauchte ein in diesen Regen und fühlte mich frei. Es war, als wäre ich ein Meteor, der einen Kreis beschrieb und in seinen eigenen Schweif eintauchte.
Doch als diese glockenhelle Menschenstimme durch einen geöffneten Türspalt rief ("Hallo, wer bist du?"), da packte mich die Wut! Unbändige, rasende Wut, wie sie mich nun jedes mal erfasst, wenn mir ein Mensch unter die Augen kommt, Gift und Galle vernebelten mein Gehirn und ich drehte mich mehrmals im Kreis, bis ich die Herkunft der Stimme lokalisieren konnte. Als ich sie aber entdeckte, da verengte sich die Welt zu einem Tunnel, ein Mensch, widerliches Wesen, an seinem Ende, mein Wahnsinn stürzte längst darauf zu, sprang durch die weit geöffneten Augen die Seele an, grub im Gesicht nach dem saftigen Gehirn, und nur der Körper musste dem Geist noch folgen; was er tat! Ich höre noch den Schrei in meiner Kehle und die ersten schweren Schritte auf dem Holz, doch von da ab sind meine Erinnerungen lückenhaft, das Stroboskop des Funken sprühenden Leuchters tat sein seiniges.
Ich sehe ein Bild von einer dunklen, schweren Tür, leicht geöffnet, dahinter leuchtet die Morgensonne, und auf Höhe des Türgriffs das Gesicht eines Mädchens. Die gleiche Aufnahme, nur ist die Tür jetzt nahe und das Mädchen schreit. Ein Bild, die Tür ist weit geöffnet, ich sehe meine Hand in der Bewegung, dahinter einen langen Flur. Ein Bild, der Rücken des Mädchens. Ein Bild, meine Hand an ihrem Knöchel, der Knöchel grotesk verdreht. Dann, ihr Gesicht - Blut. Ein Geräusch, es ist ein Schrei. Ein Bild, ein großer Mann in Unterhose steht im Flur, er hat einen Baseballschläger in der Hand. Wieder ein Geräusch, diesmal das Schneiden von Luft. Und wieder ein Bild, der Baseballschläger sehr, sehr nahe. Ein Bild, der Deckenleuchter, daneben ein Fuß.
Ich warte auf den nächsten Schlag, während ich versuche irgend etwas oder irgend jemanden zu fassen zu bekommen, dann fällt der Baseballschläger neben mir zu Boden. Meine Sinne sind geschärft, ich springe auf, möchte zur Tat schreiten, doch das Kind zerbeißt schon das Gesicht des Vaters und für mich gibt es hier nicht mehr viel zu tun.

Ach, ihr armen Menschen, ein ganzes Jahr ist nun vergangen.
Es ist für die Ratten ein Fest, auch die Fliegen haben ihren Spaß, die Ameisen, die Lurche, die aasfressenden Vögel, Würmer und Reptilien. Es gibt unzählige Hunde, ich frage mich, wo die alle herkommen. Die Hunde fressen die Ratten, die Ratten fressen die Menschen und manchmal kommt ein Bär aus dem Wald und fängt sich einen Hund. Es ist so friedlich ohne euch, seit ihr verschwunden seid scheint es, als drehe sich die Welt um sich selbst. Kein gesprochenes Wort durchbohrt den Klang der Natur, zart, wie sie flüstert, keine Schornsteine, keine Feuersäulen, keine politischen Reden verseuchen die Luft! Alles stimmt nun miteinander überein, alles gibt sich, wie es ist, zum Beispiel der Hase stolziert wie ein feiner Herr über die Felder, nach dem Kohl zu sehen, während der Igel seine Steckrüben betrachtet und sich denkt: "So schön, wie sie nun wachsen, seit sie nicht mehr von den großen Maschinen gerade gerückt und wie eine Armee aus Steckrüben in Reih und Glied in den Boden gezwungen werden." Und der Hase lacht über den Igel, als dieser ihm einen guten Morgen wünscht und sagt: »Wie kommt es, dass du hier schon so am frühen Morgen im Feld herumläufst?«
»Ich gehe spazieren«, sagt der Igel.
»Spazieren?« lacht der Hase. »Du könntest deine Beine schon zu besseren Dingen gebrauchen.«
Diese Antwort verdrießt den Igel sehr. Alles kann er vertragen, aber auf seine Beine lässt er nichts kommen, gerade weil sie von Natur aus krumm sind. Und dann schließen sie eine Wette ab, denn sie haben Zeit für solche Dinge, da ja nun seit langer Zeit keine Maschinen mehr die Felder beherrschen.
Doch ich kenne die Menschheit, irgendwo auf dieser Erde gibt es kleine Grüppchen, abgelegen, verschanzt, im Nirgendwo. Und wenn wir vom Antlitz der Erde verschwunden sind, dann seid ihr es, die die Erde neu besiedelt, neu unterwerft, neu asphaltiert, neu mit eurem Krebs überzieht und ein zweites Mal zur Hure macht!
Hunde und Wölfe sind eine eigenartige Symbiose eingegangen; sie leben miteinander, kopulieren, vermischen sich. Sie streunen in Gruppen über die großen Plätze, fressen die Ratten, in den Häusern nisten sie sich ein, sie kommen zum Fressen und gehen zum Schlafen, haben immer einen vollen Bauch. Nachts hört man sie, sie gehen an die Knochen. Es schallt und klappert in den leeren Häuserschluchten oft ganz wunderbar, Timbre, Rhythmus und Melodik werden manches mal zu einer regelrechten Symphonie! Die Städte, in denen das große Ende in der Nacht passierte sind besonders schön, denn hier sind kaum Autos und hässliche Unfälle auf den Strassen, nur einzelne weiße Knochenhäufchen, die das Echo nicht stören.
In solchen Momenten, so selten sie auch vorkommen, ärgere ich mich besonders über das eingangs beschriebenes Problem mit meinen Ohren - mir fehlt das eine und ich höre nur noch mono - und suche dann vor lauter Ärger wieder eine Bühne, einen Puff, oder eine Kirche auf, wo sich die Knochen derer, die geistigen, weiblichen, oder himmlischen Beistand suchten so hoch stapeln, dass ich nur an einem x-beliebigen Schädel zu rütteln brauche, und schon stürzt mit gewaltigem Getöse eine halbe Welt in sich zusammen!

Ach, was soll ich über die Toten reden, niemand interessiert sich für die Toten. Sie kommen immer am Ende, als Abspann einer Geschichte. Entweder wird gestorben oder geheiratet. Doch eine Geschichte, ein Buch oder ein Film über einen Toten wäre furchtbar langweilig - es würde einfach nichts passieren.
So will ich lieber vom Sterben berichten.
Es war wenige Tage nachdem ich meine Stadt verlassen hatte, um mich mit den meinigen über das Land zu ergießen, als ich plötzlich das Meer erreichte. Fragt mich nicht welches Meer, ich weiß es nicht, doch die verstümmelten Leichen klebten im Watt und es konnte nur die Ostsee oder Nordsee gewesen sein. Zwei oder drei Tage watete ich am Strand entlang, erklomm kleine Deiche und tötete in den Ortschaften, die sich dahinter verbergen wollten, kehrte an den Strand zurück, fauchte den gackernden Möwen und ein paar Schiffen hinterher, von denen manche schon kieloben schwammen, und verlor durch einen Sturz und recht viel Dummheit mein rechtes Ohr, weshalb ich, wie ich schon erwähnte, im Spiegel einem Vincent van Gogh recht ähnlich sehe.
Glaubt es, oder lasst es bleiben, doch entdeckte ich am Meer sogar ein Bauernhaus, in dem - bis dahin - eine Familie wohnte, die von dem Inferno keine Ahnung hatte. Wie verdutzt und wehrlos sie aus der Wäsche schauten, als ich ihre Großmutter erlegte.
Nicht viel später hetzte ich den Vater in den Kofferraum ihres Mercedes, erlegte ihn dort, doch plötzlich klappte der Deckel zu und ich war gefangen. So kam ich als einziger Untoter heimlich und ohne selbst etwas davon zu ahnen auf ein großes Schiff voller Flüchtlinge, ernährte mich vom Fleisch des Vaters und verhielt mich relativ ruhig. Als irgend wer den Deckel öffnete, da brach auch hier die Hölle los, die Menschen waren auf dem Meer gefangen, in Gesellschaft mit dem wilden Tod.
Leider ging der Kapitän als einer der ersten über Bord, so dass wir, nachdem der letzte Mensch gefressen war, noch Wochen lang unkontrolliert über den Atlantik schipperten. Doch das Glück war uns letztendlich hold und wir strandeten an einer großen Stadt in der noch viele widerliche Menschen ihr Unwesen trieben.

Dort floss das Blut in Strömen, ich habe so etwas seitdem nicht mehr gesehen. Sieben Liter pro Mensch, selbst heute, nach vielem rechnerischen Hin und Her, verstehe ich nicht woher so viel Blut kommen konnte.
Stellen Sie sich vor, Sie besitzen eine Modelleisenbahn und Sie schlachten darüber einen Elefanten! Die Häuser, fast jedes Fenster war von innen rot beschmiert, zähflüssige Ströme ergossen sich aus den offenen Türen, spieen euch auf die Strassen, von Tod und Chaos und Zerstörung aufgeraut, gerupft wie ein Huhn waren diese, die Gullis waren verstopft, mit Armen und Beinen und Fetzen von Menschenfleisch, und so schien es fast, als sei die ganze Stadt ein Tier gewesen, welches nun sein Inneres nach außen kehrte und sich dabei in warmes, totes Fleisch verwandelte. Doch noch war der Wandel im Gange und das Geschrei der Menschen klang, als wären für jeden Sterbenden 666 Choräle aus der Unterwelt gekrochen um seinen Tod in grausiger Disharmonie zu feiern! Eine Arie war Angst, eine Arie war Trauer, eine Arie war Schmerz, eine Arie war Hoffnungslosigkeit und wir spielten mit unseren kehligen Schreien den Bass dazu. Polizei, Militär, Feuerwehr und Krankenwagen eilten ziellos durch die Stadt, nichts konnten sie retten, und ihre Sirenen betrauerten lediglich den Niedergang der Zivilisation.
Ich gebe zu, ich halte mich für eines der ruhigeren Exemplare meiner Art, doch auch mich überkam die Mordlust und ich packte mir hier eine Frau und dort einen Mann, hatte bald rohes Fleisch zwischen den Zähnen hängen - rasender Mönch des Todes! - jagte alles, was nach Leben roch, und da gab es in den ersten Stunden einiges! Dann wurde es dunkel, das Blut gerann, ich suchte nach Opfern, fand mich letztendlich auf einer mit Autos und Leichenteilen verstopften, breiten Straße wieder, sprang in einen stehenden Linienbus, fand noch ein paar Lebende und half einer nackten Schwarzen bei der Vernichtung der Menschheit!
Langsam trieb es mich hinaus aus der Stadt, denn, wie ich eingangs schon berichtet habe, wandte sich das Blatt hier schnell. Erst fielen die Städte, denn in den Städten gab es über Nacht so viele von uns, dass niemand eine Chance hatte. Dann strömten wir zu Hunderttausenden aus den Städten und ergossen unsere Art wie die Sintflut des Herrn Zebaoth über das Land. Ich möchte nicht wissen wie viele Menschen wie viele Kilometer gelaufen sind, um uns zu entkommen, wie viele Mütter schreiend ihre Kinder vergaßen, die sich nicht wehren konnten, und wie viele von euch umsonst gelaufen sind, nur um uns... ach, Grausamkeiten überall. Selbst die Armee hatte uns nichts entgegenzusetzen, denn von es reichte immer nur einer hinter ihren Reihen, um eine ganze Kompanie zu Fall zu bringen, während sie uns einzeln in die Köpfe schießen mussten.
Das Militär, den organisierten Widerstand, zu brechen dauerte eine Woche. Anschließend war eine Woche Jagdsaison und ihr ranntet wie die Hasen auf dem Felde, wie das Kaninchen beim 'Hase und Igel' mit dem Igel um die Wette läuft, und egal wie schnell es ist, der Igel gewinnt. "Bin schon da!" sagt der Igel oder des Igels Frau, und der Hase verendet auf dem Felde.
Dann ebbte die Gewalt langsam ab. Der Großteil der Menschheit war tot oder untot, ein weiterer Teil - bei allem Respekt, ein kläglicher Rest - verschanzte sich noch hier und da, ein paar Grüppchen, in Bunkern, auf Booten, auf Inseln oder in Einkaufszentren. Wir belagerten sie, schließlich hatten wir alle Zeit der Welt, und die letzten widerspenstigen Bastionen sind längst gefallen.
Nun herrschen König Friede und Prinzessin Lethargie auf Gottes weiter Erde. Das Blut wird von den Geckos von den Steinen geleckt, und die Ruinen - ganze Städte - versinken unter wucherndem Efeu und Wein. Kätzchen treiben sich in den Häusern herum und halten dort die Ratten und Mäuse in Schach, die Strassen überlassen sie den Nagern kampflos. Vielleicht ist es auch die den Katzen angeborene Angst vor den Hundsartigen, die sie in die Häuser drängt, denn von dieser bunten Mischung sieht man auf den Strassen und Plätzen zwischen Ratten und Fleisch doch einige. Die Morgensonne scheint wärmer und die Abendsonne stärker zu sein, als noch zu eurer Zeit, die Tiere sind potenter und strotzen nur vor unverpuffter Energie, und überhaupt wirkt die Natur wie ein langjähriger Sklave, dem eine günstige Fügung des Schicksals überraschend die Ketten sprengte.

Während einem nächtlichen Spaziergang war ich erst den breiten Strassen gefolgt, um dann behutsam in die kleineren Strassen und Seitengässchen vorzudringen. Diese waren besonders interessant. Die Toten hingen in eine ganz bestimmte Richtung aus den Fenstern, als hätten sie alle gemeinsam fliehen wollen, und so konnte man erkennen, aus welcher Richtung wir gekommen waren.
Nur ein schmales Haus hinter einer unscheinbaren Einfahrt machte eine Ausnahme, denn hier war die Türe für alle offen gewesen. Die Knochen lagen davor, als wäre ein gewaltiger Salzstreuer umgekippt, draußen hang ein Plakat, die Toten hatten Bier dabei gehabt, und überhaupt wirkte alles sehr sympathisch. Ich sah mich um, konnte aber nichts Niederträchtiges erkennen, und da wurde mir für einen Augenblick das Herzen schwer - nennt es eine Ahnung von dem, was früher schön gewesen war, nennt es Melancholie der Einsamkeit - und ich fragte mich, ob das alles überhaupt so rechtens gewesen war, die Wut, der Wahnsinn und das herrliche Gemetzel. Traurig stieg ich in den Keller herab und fand ein schlimmes Tohuwabohu aus Stühlen, Tischen und Gerippen.
Ein Kohleschacht war im Überlebenskampf entzwei gegangen, durch den nun ein spärliches Licht den Keller erhellte, es war der Vollmond, der zum Kohleschacht hinein und die Szenerie beleuchtete: ein Künstler, was weiß ich, ob billig oder teuer, lag quer über seinem Pult, das Mikrophon stand noch mitten im Raum - es hatte wohl zuletzt die spannendsten Signale geliefert - und eine gute Hand voll Gäste verteilte sich in alle Richtungen, die meisten jedoch in die Tiefe des Raumes, aus dem es kein Entrinnen gegeben hatte. Der ungleiche Kampf war hier im Stilleben verewigt, in all seiner Abscheulichkeit, und ich fragte mich nun, wie es wohl gewesen sein muss, damals, im düsteren Keller, als von hinten plötzlich ein knurrendes Kind gekommen war...

Nun sitze ich im Wald, an einem Baum, und lausche dem Wind. Es ist dunkel geworden. Der Wind redet mit mir, er erzählt mir von einem fernen Land. Ich höre die Eichhörnchen, wie sie über die Äste klettern und dem wellenartigen Rascheln, wie es der Wind verursacht, ein eigenes, rhythmischeres Geräusch hinzufügen. Hepp, hepp, zwei, drei Schritte, dann bleiben sie stehen. Und wieder: Hepp, hepp! Unter dem steten Teppich des ewigen Windes höre ich sie an einem Ast, an einer Nuss oder an den eigenen Pfoten knabbern. Manches mal ist der Wind so laut, dass die Eichhörnchen verschwinden - so wie ein Fischerboot im unruhigen Meer hinter den Wellenbergen verschwindet. Dann sind sie wieder da, oft haben sie ihren Platz gewechselt.
Währenddessen erzählt der Wind von der Wüste. Heißer, roter Sand wurde durch seine Hand zu Wanderdünen aufgeworfen. Irgendwann werden diese Dünen in eure Städte wandern, und niemand wird etwas dagegen tun. Dann werden die Häuser und die Strassen verschwunden sein, wie das Fischerboot hinter den Wellen. Nur werden eure Städte nicht mehr die gleichen sein, wenn die Dünen weitergezogen sind. Die Ratten werden in der Kanalisation verenden, die Vögel werden nach Westen ziehen, die Katzen werden verhungern oder verdursten, und nur die Hunde werden bleiben und zu Hyänen werden.
All das erzählt mir der Wind.
Die Stunden vergehen.
Die Dämmerung zieht herauf und der Himmel schimmert im tiefen Dunkelblau. Noch sitze ich im Wald und sehe wenig, doch sehe und höre ich eine dieser grünlich schillernden Fliegen auf meinem Bein sitzen. Es scheint, als habe sie Geschmack daran gefunden, oder als wolle sie in mich ihre Larven legen, aber das kann nicht sein! Die Tiere haben uns immer ignoriert, wir sind, wenn wir uns bewegen, für sie als würde Wasser fließen oder ein Stein einen Hang hinab rollen. Selbst die Würmer und Insekten haben uns nicht wahrgenommen. Wie sollen wir verwesen, wenn die Tiere keine Notiz von uns nehmen? Doch diese Fliege...
Die Eichhörnchen haben aufgehört zu spielen, und auch der Wind hat abgeflaut. Während ich dieses seltsame Insekt auf meinem Bein beobachte kommen die Wölfe. Im Halbdunkel des Waldes stehen sie wie Schatten ihrer selbst und nur ihre leuchtenden Augen verraten sie. Es sind viele Augen, ähnlich wie die Fliege auf meinem Bein schillern sie bedrohlich in der Düsternis. Es scheint mir eine Farbe zu sein, die ich vorher nicht gesehen habe, eine Facette, die es noch nicht gab. Die Wölfe knurren, vielleicht ist es eine neue Facette der Natur! Vielleicht hat sich eben, in dieser Nacht etwas verändert.
Die Wölfe schauen mich an, die Fliege frisst von meinem Fleisch, die Sonne bahnt sich ihren Weg. Vielleicht noch eine Stunde, bis sie hinter den ersten Wipfeln zu sehen sein wird. Vielleicht noch eine Stunde...
Die Wölfe schleichen sich heran, es sind zehn oder zwölf. Ich beobachte sie, sie beobachten mich. Wölfe haben die Fähigkeit, ihr Ziel nicht aus den Augen zu lassen, selbst wenn sie plötzlich die Richtung wechseln. Ihre glühenden Augen sind fest auf ihr Ziel fixiert.
Ich bin ihr Ziel.
Sie knurren, ich kann ihr struppiges Haar erkennen.
Die Fliege...
Die Natur...
Es ist zu spät!

© Dominic Memmel (Mainz, 2007)