Denn Staub bist Du, und zum Staub wirst Du
zurückkehren. (Genesis 3:19)
Diese Geschichte ist eigentlich gelogen, Kinder, aber wahr ist sie
doch, denn mein Großvater, von dem ich sie habe, pflegte
immer, wenn er sie erzählte, zu sagen: »Wahr muss sie
sein, mein Sohn, sonst könnte man sie ja nicht
erzählen.« Die Geschichte aber hat sich so
zugetragen.
Ich möchte am Anfang beginnen, ich war ein Mensch.
Zumindest, ich muss einer gewesen sein, denn wenn ich in einen
Spiegel blicke - ich meine eine Pfütze oder eine nasse, kalte
Fensterscheibe, ein Geschäft, Aquarium für Puppen und
Nerze, verklebt und verkrustet von eurem Blut - dann sehe ich
etwas, das menschliche Züge hat. Eingefallene Züge,
zugegebenen, ein lebloses, aschfahles Gesicht mit einer
eingedrückten Stirn, toten Augen aus denen etwas Seltsames
strahlt, das ich nicht beschreiben kann - und mit dem
mittelschweren Dilemma eines abkömmlichen rechten Ohres wirke
ich im Spiegel wie ein zu Fleisch gewordenes Selbstportrait des
Vincent van Gogh. Ich kann mich nicht daran erinnern, aber doch, es
ist ganz klar: ich war einmal ein Mensch.
Meine Gedanken setzten dort ein, als die beiden meiner Art, die
mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin, von mir abgelassen
haben, da ihnen totes Fleisch nicht schmeckt. Wenn Sie mich nach
meinem bürgerlichen Namen fragen, den weiß ich nicht. Ich
bin in einem weißen Bademantel aufgewacht, den ich noch heute
trage, das ist das Einzige, und erst vier oder fünf Tage
später und Kilometer von der Stadt entfernt kam ich
überhaupt auf die Idee, mein vorheriges Leben zu erforschen.
Ich stellte mir Fragen, auf die ich keine Antworten fand.
Sicherlich, ich weiß was ein Fernseher ist und wie man einen
Videorecorder programmiert, ich kann rechnen, wenn euch das
glücklich macht, und ich weiß was ein Mensch ist und wie
er riecht. Doch würde ich diese Gedanken und Erfahrungen einem
kollektiven oder ererbten Erinnerungsvermögen zuschreiben.
Doch Erinnerungen? Persönliche Erinnerungen an das davor?
Fehlanzeige, meine Freunde. Ich würde meine Mutter nicht
erkennen, selbst wenn sie vor mir stehen würde, ich würde
in ihr nichts als einen widerlichen, sich grotesk, gestelzt, ja,
unnatürlich bewegenden Körper sehen, einen nach
süßen Säften stinkenden Menschen, ich würde sie
reißen! Die Zerstörung der Welt kann ich also nur aus
Sicht des Löwen beschreiben, der gerissen hat, nicht aus der
des armseligen Viehs!
Ich will von meinem ersten Mal berichten, dem ersten Menschen den
ich riss. Zuerst erwachte ich. Es war wie eine Geburt.
Ich war nicht alleine, wie ich schon sagte, denn zwei meiner Art
waren über mir und ließen eben, als ich erwachte, von mir
ab, denn totes Fleisch schmeckt uns nicht. Diese Zwei waren
übel verstümmelt. Dem einen fehlten beide Beine, der
andere war blind, und doch hatten sie mich erwischt! Sie hatten die
Tür aufgebrochen, als ich geschlafen hatte, und ich hatte sie
entweder nicht bemerkt - was ich mir nur schwerlich vorstellen kann
- oder mein Entsetzen hatte alle meine Muskeln und Gelenke in
vertrocknete Grütze verwandelt, so dass ich wohl oder
übel eine halbe Minute in meinem Bett gesessen haben musste,
das drohende Unheil vor Augen, ohne auch nur die geringsten
Maßnahmen zur Selbstverteidigung zu ergreifen, ich muss ein
schwacher Mensch gewesen sein. Ich hatte wahrscheinlich dagesessen
und geschrieen, und die beiden hatten es sich unbehelligt schmecken
lassen, bis ich dann endlich gestorben und wieder auferstanden bin,
wie euer Jesus, am Kreuze und in der Kammer.
Ich ließ sie links liegen, denn sie waren langsam, uns so
eilte ich durch eine fremde Wohnung in ein fremdes Treppenhaus. Die
Lichter waren kaputt, ein hängender Leuchter spuckte Funken,
und eine Leiche hockte am nächsten Fenster und hatte mit ihrem
Blut das ganze Glas besudelt, so dass sich ein diesiges,
rotfleckiges Licht über die Treppen ergoss. Es war ein altes
Haus.
"Hallo, wer bist du?"
Ich war ruhig gewesen, das kann ich Euch versichern. Ein gewisses
Interesse an der Szenerie hatte meine Sinne geschärft und ich
nahm alles tief in mich auf. Ihr dürft nicht vergessen, ich
war eben erst geboren worden und die Welt war voller Wunder. Lange
Zeit stand ich nur da und beobachtete die Funken, die in hohem
Bogen aus dem Deckenleuchter stoben, tauchte ein in diesen Regen
und fühlte mich frei. Es war, als wäre ich ein Meteor,
der einen Kreis beschrieb und in seinen eigenen Schweif
eintauchte.
Doch als diese glockenhelle Menschenstimme durch einen
geöffneten Türspalt rief ("Hallo, wer bist
du?"), da packte mich die Wut! Unbändige, rasende Wut,
wie sie mich nun jedes mal erfasst, wenn mir ein Mensch unter die
Augen kommt, Gift und Galle vernebelten mein Gehirn und ich drehte
mich mehrmals im Kreis, bis ich die Herkunft der Stimme
lokalisieren konnte. Als ich sie aber entdeckte, da verengte sich
die Welt zu einem Tunnel, ein Mensch, widerliches Wesen, an seinem
Ende, mein Wahnsinn stürzte längst darauf zu, sprang
durch die weit geöffneten Augen die Seele an, grub im Gesicht
nach dem saftigen Gehirn, und nur der Körper musste dem Geist
noch folgen; was er tat! Ich höre noch den Schrei in meiner
Kehle und die ersten schweren Schritte auf dem Holz, doch von da ab
sind meine Erinnerungen lückenhaft, das Stroboskop des Funken
sprühenden Leuchters tat sein seiniges.
Ich sehe ein Bild von einer dunklen, schweren Tür, leicht
geöffnet, dahinter leuchtet die Morgensonne, und auf Höhe
des Türgriffs das Gesicht eines Mädchens. Die gleiche
Aufnahme, nur ist die Tür jetzt nahe und das Mädchen
schreit. Ein Bild, die Tür ist weit geöffnet, ich sehe
meine Hand in der Bewegung, dahinter einen langen Flur. Ein Bild,
der Rücken des Mädchens. Ein Bild, meine Hand an ihrem
Knöchel, der Knöchel grotesk verdreht. Dann, ihr Gesicht
- Blut. Ein Geräusch, es ist ein Schrei. Ein Bild, ein
großer Mann in Unterhose steht im Flur, er hat einen
Baseballschläger in der Hand. Wieder ein Geräusch,
diesmal das Schneiden von Luft. Und wieder ein Bild, der
Baseballschläger sehr, sehr nahe. Ein Bild, der
Deckenleuchter, daneben ein Fuß.
Ich warte auf den nächsten Schlag, während ich versuche
irgend etwas oder irgend jemanden zu fassen zu bekommen, dann
fällt der Baseballschläger neben mir zu Boden. Meine
Sinne sind geschärft, ich springe auf, möchte zur Tat
schreiten, doch das Kind zerbeißt schon das Gesicht des Vaters
und für mich gibt es hier nicht mehr viel zu tun.
Ach, ihr armen Menschen, ein ganzes Jahr ist nun vergangen.
Es ist für die Ratten ein Fest, auch die Fliegen haben ihren
Spaß, die Ameisen, die Lurche, die aasfressenden Vögel,
Würmer und Reptilien. Es gibt unzählige Hunde, ich frage
mich, wo die alle herkommen. Die Hunde fressen die Ratten, die
Ratten fressen die Menschen und manchmal kommt ein Bär aus dem
Wald und fängt sich einen Hund. Es ist so friedlich ohne euch,
seit ihr verschwunden seid scheint es, als drehe sich die Welt um
sich selbst. Kein gesprochenes Wort durchbohrt den Klang der Natur,
zart, wie sie flüstert, keine Schornsteine, keine
Feuersäulen, keine politischen Reden verseuchen die Luft!
Alles stimmt nun miteinander überein, alles gibt sich, wie es
ist, zum Beispiel der Hase stolziert wie ein feiner Herr über
die Felder, nach dem Kohl zu sehen, während der Igel seine
Steckrüben betrachtet und sich denkt: "So schön, wie
sie nun wachsen, seit sie nicht mehr von den großen Maschinen
gerade gerückt und wie eine Armee aus Steckrüben in Reih
und Glied in den Boden gezwungen werden." Und der Hase lacht
über den Igel, als dieser ihm einen guten Morgen wünscht
und sagt: »Wie kommt es, dass du hier schon so am frühen
Morgen im Feld herumläufst?«
»Ich gehe spazieren«, sagt der Igel.
»Spazieren?« lacht der Hase. »Du könntest deine
Beine schon zu besseren Dingen gebrauchen.«
Diese Antwort verdrießt den Igel sehr. Alles kann er
vertragen, aber auf seine Beine lässt er nichts kommen, gerade
weil sie von Natur aus krumm sind. Und dann schließen sie eine
Wette ab, denn sie haben Zeit für solche Dinge, da ja nun seit
langer Zeit keine Maschinen mehr die Felder beherrschen.
Doch ich kenne die Menschheit, irgendwo auf dieser Erde gibt es
kleine Grüppchen, abgelegen, verschanzt, im Nirgendwo. Und
wenn wir vom Antlitz der Erde verschwunden sind, dann seid ihr es,
die die Erde neu besiedelt, neu unterwerft, neu asphaltiert, neu
mit eurem Krebs überzieht und ein zweites Mal zur Hure
macht!
Hunde und Wölfe sind eine eigenartige Symbiose eingegangen;
sie leben miteinander, kopulieren, vermischen sich. Sie streunen in
Gruppen über die großen Plätze, fressen die Ratten,
in den Häusern nisten sie sich ein, sie kommen zum Fressen und
gehen zum Schlafen, haben immer einen vollen Bauch. Nachts
hört man sie, sie gehen an die Knochen. Es schallt und
klappert in den leeren Häuserschluchten oft ganz wunderbar,
Timbre, Rhythmus und Melodik werden manches mal zu einer
regelrechten Symphonie! Die Städte, in denen das große
Ende in der Nacht passierte sind besonders schön, denn hier
sind kaum Autos und hässliche Unfälle auf den Strassen,
nur einzelne weiße Knochenhäufchen, die das Echo nicht
stören.
In solchen Momenten, so selten sie auch vorkommen, ärgere ich
mich besonders über das eingangs beschriebenes Problem mit
meinen Ohren - mir fehlt das eine und ich höre nur noch mono -
und suche dann vor lauter Ärger wieder eine Bühne, einen
Puff, oder eine Kirche auf, wo sich die Knochen derer, die
geistigen, weiblichen, oder himmlischen Beistand suchten so hoch
stapeln, dass ich nur an einem x-beliebigen Schädel zu
rütteln brauche, und schon stürzt mit gewaltigem
Getöse eine halbe Welt in sich zusammen!
Ach, was soll ich über die Toten reden, niemand interessiert
sich für die Toten. Sie kommen immer am Ende, als Abspann
einer Geschichte. Entweder wird gestorben oder geheiratet. Doch
eine Geschichte, ein Buch oder ein Film über einen Toten
wäre furchtbar langweilig - es würde einfach nichts
passieren.
So will ich lieber vom Sterben berichten.
Es war wenige Tage nachdem ich meine Stadt verlassen hatte, um mich
mit den meinigen über das Land zu ergießen, als ich
plötzlich das Meer erreichte. Fragt mich nicht welches Meer,
ich weiß es nicht, doch die verstümmelten Leichen klebten
im Watt und es konnte nur die Ostsee oder Nordsee gewesen sein.
Zwei oder drei Tage watete ich am Strand entlang, erklomm kleine
Deiche und tötete in den Ortschaften, die sich dahinter
verbergen wollten, kehrte an den Strand zurück, fauchte den
gackernden Möwen und ein paar Schiffen hinterher, von denen
manche schon kieloben schwammen, und verlor durch einen Sturz und
recht viel Dummheit mein rechtes Ohr, weshalb ich, wie ich schon
erwähnte, im Spiegel einem Vincent van Gogh recht ähnlich
sehe.
Glaubt es, oder lasst es bleiben, doch entdeckte ich am Meer sogar
ein Bauernhaus, in dem - bis dahin - eine Familie wohnte, die von
dem Inferno keine Ahnung hatte. Wie verdutzt und wehrlos sie aus
der Wäsche schauten, als ich ihre Großmutter erlegte.
Nicht viel später hetzte ich den Vater in den Kofferraum ihres
Mercedes, erlegte ihn dort, doch plötzlich klappte der Deckel
zu und ich war gefangen. So kam ich als einziger Untoter heimlich
und ohne selbst etwas davon zu ahnen auf ein großes Schiff
voller Flüchtlinge, ernährte mich vom Fleisch des Vaters
und verhielt mich relativ ruhig. Als irgend wer den Deckel
öffnete, da brach auch hier die Hölle los, die Menschen
waren auf dem Meer gefangen, in Gesellschaft mit dem wilden
Tod.
Leider ging der Kapitän als einer der ersten über Bord,
so dass wir, nachdem der letzte Mensch gefressen war, noch Wochen
lang unkontrolliert über den Atlantik schipperten. Doch das
Glück war uns letztendlich hold und wir strandeten an einer
großen Stadt in der noch viele widerliche Menschen ihr Unwesen
trieben.
Dort floss das Blut in Strömen, ich habe so etwas seitdem
nicht mehr gesehen. Sieben Liter pro Mensch, selbst heute, nach
vielem rechnerischen Hin und Her, verstehe ich nicht woher so viel
Blut kommen konnte.
Stellen Sie sich vor, Sie besitzen eine Modelleisenbahn und Sie
schlachten darüber einen Elefanten! Die Häuser, fast
jedes Fenster war von innen rot beschmiert, zähflüssige
Ströme ergossen sich aus den offenen Türen, spieen euch
auf die Strassen, von Tod und Chaos und Zerstörung aufgeraut,
gerupft wie ein Huhn waren diese, die Gullis waren verstopft, mit
Armen und Beinen und Fetzen von Menschenfleisch, und so schien es
fast, als sei die ganze Stadt ein Tier gewesen, welches nun sein
Inneres nach außen kehrte und sich dabei in warmes, totes
Fleisch verwandelte. Doch noch war der Wandel im Gange und das
Geschrei der Menschen klang, als wären für jeden
Sterbenden 666 Choräle aus der Unterwelt gekrochen um seinen
Tod in grausiger Disharmonie zu feiern! Eine Arie war Angst, eine
Arie war Trauer, eine Arie war Schmerz, eine Arie war
Hoffnungslosigkeit und wir spielten mit unseren kehligen Schreien
den Bass dazu. Polizei, Militär, Feuerwehr und Krankenwagen
eilten ziellos durch die Stadt, nichts konnten sie retten, und ihre
Sirenen betrauerten lediglich den Niedergang der Zivilisation.
Ich gebe zu, ich halte mich für eines der ruhigeren Exemplare
meiner Art, doch auch mich überkam die Mordlust und ich packte
mir hier eine Frau und dort einen Mann, hatte bald rohes Fleisch
zwischen den Zähnen hängen - rasender Mönch des
Todes! - jagte alles, was nach Leben roch, und da gab es in den
ersten Stunden einiges! Dann wurde es dunkel, das Blut gerann, ich
suchte nach Opfern, fand mich letztendlich auf einer mit Autos und
Leichenteilen verstopften, breiten Straße wieder, sprang in
einen stehenden Linienbus, fand noch ein paar Lebende und half
einer nackten Schwarzen bei der Vernichtung der Menschheit!
Langsam trieb es mich hinaus aus der Stadt, denn, wie ich eingangs
schon berichtet habe, wandte sich das Blatt hier schnell. Erst
fielen die Städte, denn in den Städten gab es über
Nacht so viele von uns, dass niemand eine Chance hatte. Dann
strömten wir zu Hunderttausenden aus den Städten und
ergossen unsere Art wie die Sintflut des Herrn Zebaoth über
das Land. Ich möchte nicht wissen wie viele Menschen wie viele
Kilometer gelaufen sind, um uns zu entkommen, wie viele Mütter
schreiend ihre Kinder vergaßen, die sich nicht wehren konnten,
und wie viele von euch umsonst gelaufen sind, nur um uns... ach,
Grausamkeiten überall. Selbst die Armee hatte uns nichts
entgegenzusetzen, denn von es reichte immer nur einer hinter ihren
Reihen, um eine ganze Kompanie zu Fall zu bringen, während sie
uns einzeln in die Köpfe schießen mussten.
Das Militär, den organisierten Widerstand, zu brechen dauerte
eine Woche. Anschließend war eine Woche Jagdsaison und ihr
ranntet wie die Hasen auf dem Felde, wie das Kaninchen beim
'Hase und Igel' mit dem Igel um die Wette läuft, und
egal wie schnell es ist, der Igel gewinnt. "Bin schon
da!" sagt der Igel oder des Igels Frau, und der Hase verendet
auf dem Felde.
Dann ebbte die Gewalt langsam ab. Der Großteil der Menschheit
war tot oder untot, ein weiterer Teil - bei allem Respekt, ein
kläglicher Rest - verschanzte sich noch hier und da, ein paar
Grüppchen, in Bunkern, auf Booten, auf Inseln oder in
Einkaufszentren. Wir belagerten sie, schließlich hatten wir
alle Zeit der Welt, und die letzten widerspenstigen Bastionen sind
längst gefallen.
Nun herrschen König Friede und Prinzessin Lethargie auf Gottes
weiter Erde. Das Blut wird von den Geckos von den Steinen geleckt,
und die Ruinen - ganze Städte - versinken unter wucherndem
Efeu und Wein. Kätzchen treiben sich in den Häusern herum
und halten dort die Ratten und Mäuse in Schach, die Strassen
überlassen sie den Nagern kampflos. Vielleicht ist es auch die
den Katzen angeborene Angst vor den Hundsartigen, die sie in die
Häuser drängt, denn von dieser bunten Mischung sieht man
auf den Strassen und Plätzen zwischen Ratten und Fleisch doch
einige. Die Morgensonne scheint wärmer und die Abendsonne
stärker zu sein, als noch zu eurer Zeit, die Tiere sind
potenter und strotzen nur vor unverpuffter Energie, und
überhaupt wirkt die Natur wie ein langjähriger Sklave,
dem eine günstige Fügung des Schicksals überraschend
die Ketten sprengte.
Während einem nächtlichen Spaziergang war ich erst den
breiten Strassen gefolgt, um dann behutsam in die kleineren
Strassen und Seitengässchen vorzudringen. Diese waren
besonders interessant. Die Toten hingen in eine ganz bestimmte
Richtung aus den Fenstern, als hätten sie alle gemeinsam
fliehen wollen, und so konnte man erkennen, aus welcher Richtung
wir gekommen waren.
Nur ein schmales Haus hinter einer unscheinbaren Einfahrt machte
eine Ausnahme, denn hier war die Türe für alle offen
gewesen. Die Knochen lagen davor, als wäre ein gewaltiger
Salzstreuer umgekippt, draußen hang ein Plakat, die Toten
hatten Bier dabei gehabt, und überhaupt wirkte alles sehr
sympathisch. Ich sah mich um, konnte aber nichts
Niederträchtiges erkennen, und da wurde mir für einen
Augenblick das Herzen schwer - nennt es eine Ahnung von dem, was
früher schön gewesen war, nennt es Melancholie der
Einsamkeit - und ich fragte mich, ob das alles überhaupt so
rechtens gewesen war, die Wut, der Wahnsinn und das herrliche
Gemetzel. Traurig stieg ich in den Keller herab und fand ein
schlimmes Tohuwabohu aus Stühlen, Tischen und Gerippen.
Ein Kohleschacht war im Überlebenskampf entzwei gegangen,
durch den nun ein spärliches Licht den Keller erhellte, es war
der Vollmond, der zum Kohleschacht hinein und die Szenerie
beleuchtete: ein Künstler, was weiß ich, ob billig oder
teuer, lag quer über seinem Pult, das Mikrophon stand noch
mitten im Raum - es hatte wohl zuletzt die spannendsten Signale
geliefert - und eine gute Hand voll Gäste verteilte sich in
alle Richtungen, die meisten jedoch in die Tiefe des Raumes, aus
dem es kein Entrinnen gegeben hatte. Der ungleiche Kampf war hier
im Stilleben verewigt, in all seiner Abscheulichkeit, und ich
fragte mich nun, wie es wohl gewesen sein muss, damals, im
düsteren Keller, als von hinten plötzlich ein knurrendes
Kind gekommen war...
Nun sitze ich im Wald, an einem Baum, und lausche dem Wind. Es ist
dunkel geworden. Der Wind redet mit mir, er erzählt mir von
einem fernen Land. Ich höre die Eichhörnchen, wie sie
über die Äste klettern und dem wellenartigen Rascheln,
wie es der Wind verursacht, ein eigenes, rhythmischeres
Geräusch hinzufügen. Hepp, hepp, zwei, drei Schritte,
dann bleiben sie stehen. Und wieder: Hepp, hepp! Unter dem steten
Teppich des ewigen Windes höre ich sie an einem Ast, an einer
Nuss oder an den eigenen Pfoten knabbern. Manches mal ist der Wind
so laut, dass die Eichhörnchen verschwinden - so wie ein
Fischerboot im unruhigen Meer hinter den Wellenbergen verschwindet.
Dann sind sie wieder da, oft haben sie ihren Platz gewechselt.
Währenddessen erzählt der Wind von der Wüste.
Heißer, roter Sand wurde durch seine Hand zu Wanderdünen
aufgeworfen. Irgendwann werden diese Dünen in eure Städte
wandern, und niemand wird etwas dagegen tun. Dann werden die
Häuser und die Strassen verschwunden sein, wie das Fischerboot
hinter den Wellen. Nur werden eure Städte nicht mehr die
gleichen sein, wenn die Dünen weitergezogen sind. Die Ratten
werden in der Kanalisation verenden, die Vögel werden nach
Westen ziehen, die Katzen werden verhungern oder verdursten, und
nur die Hunde werden bleiben und zu Hyänen werden.
All das erzählt mir der Wind.
Die Stunden vergehen.
Die Dämmerung zieht herauf und der Himmel schimmert im tiefen
Dunkelblau. Noch sitze ich im Wald und sehe wenig, doch sehe und
höre ich eine dieser grünlich schillernden Fliegen auf
meinem Bein sitzen. Es scheint, als habe sie Geschmack daran
gefunden, oder als wolle sie in mich ihre Larven legen, aber das
kann nicht sein! Die Tiere haben uns immer ignoriert, wir sind,
wenn wir uns bewegen, für sie als würde Wasser
fließen oder ein Stein einen Hang hinab rollen. Selbst die
Würmer und Insekten haben uns nicht wahrgenommen. Wie sollen
wir verwesen, wenn die Tiere keine Notiz von uns nehmen? Doch diese
Fliege...
Die Eichhörnchen haben aufgehört zu spielen, und auch der
Wind hat abgeflaut. Während ich dieses seltsame Insekt auf
meinem Bein beobachte kommen die Wölfe. Im Halbdunkel des
Waldes stehen sie wie Schatten ihrer selbst und nur ihre
leuchtenden Augen verraten sie. Es sind viele Augen, ähnlich
wie die Fliege auf meinem Bein schillern sie bedrohlich in der
Düsternis. Es scheint mir eine Farbe zu sein, die ich vorher
nicht gesehen habe, eine Facette, die es noch nicht gab. Die
Wölfe knurren, vielleicht ist es eine neue Facette der Natur!
Vielleicht hat sich eben, in dieser Nacht etwas verändert.
Die Wölfe schauen mich an, die Fliege frisst von meinem
Fleisch, die Sonne bahnt sich ihren Weg. Vielleicht noch eine
Stunde, bis sie hinter den ersten Wipfeln zu sehen sein wird.
Vielleicht noch eine Stunde...
Die Wölfe schleichen sich heran, es sind zehn oder zwölf.
Ich beobachte sie, sie beobachten mich. Wölfe haben die
Fähigkeit, ihr Ziel nicht aus den Augen zu lassen, selbst wenn
sie plötzlich die Richtung wechseln. Ihre glühenden Augen
sind fest auf ihr Ziel fixiert.
Ich bin ihr Ziel.
Sie knurren, ich kann ihr struppiges Haar erkennen.
Die Fliege...
Die Natur...
Es ist zu spät!
© Dominic Memmel (Mainz, 2007)
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