Schnipsel

Kindbett

Eine Geschichte von Nina Munk

(Da die Geschichte etwas länger ist, empfiehlt sich zur angenehmeren Lektüre der Ausdruck)


25.02.04.:

Liebes Tagebuch !

Diese Anrede erscheint mir irgendwie falsch, aber da sieht man mal wieder, wie wenig Ahnung ich davon habe, ein Tagesprotokoll zu führen. Liebes Tagebuch? Das hört sich an, als würde ich ein Teenager in der Vorpubertät sein, in einem rosa Zimmer auf meinem zartlila Plüschkissen hocken und mit einer ebenfalls pastellfarbenen Plüschfeder darüber schreiben, was ich einmal werden will, wenn ich groß bin. Was soll das überhaupt bedeuten, Liebes Tagebuch? An wen genau wende ich mich da? Einen fiktiven Freund, der nur zuhört und nie widerspricht? Der nie eigene Probleme zu haben scheint, sondern nur erschaffen wurde, um ganz alleine für mich da zu sein?
Nun, wahrscheinlich ist es so. Vielleicht ist es ja genau das, was viele Generationen junger Mädchen daran faszinierend fanden, ein Tagebuch zu führen. Ich für meinen Teil glaube, ich bin schon etwas zu alt für diese absurde Phantasie einer perfekten Freundschaft, einer perfekten Partnerschaft, die doch nur einseitig sein kann, wenn nur einer redet und die Meinung des anderen gar nicht erst abwartet. Herrgott, wurden wir denn alle zu Egoisten erzogen ?

Ich führe dieses Tagebuch, weil die Ärzte mir dazu geraten haben, einerseits aus medizinischen Gründen, die ich hier nicht genau erläutern will – okay, wenn schon absolute Ehrlichkeit gefragt ist, die Gründe, die mir die Ärzte genannt haben, sind an mir spurlos vorüber gegangen, zum einen Ohr rein,...wie man so schön sagt. Das nächste Mal, wenn ich einen dieser fliegenden Kittel sehe, bringe ich einen Dolmetscher mit, jemand, der mir genau erklären kann, was diese bebrillten Marsianer eigentlich sagen. Noch besser wäre einer dieser Ohrstöpsel aus den Fernsehshows, ein kleiner Zuflüsterer aus dem Halbdunkel jenseits der Kulissen, eine zeitverzögerte Übersetzung, sehr praktisch.

Ich weiss dennoch, auf was sie eigentlich hinauswollten, auch ohne einen Übersetzer zu beantragen. Es stand in jeder gerunzelten Stirnfalte geschrieben, in jedem verzogenen Mundwinkel: Halten Sie fest, wie Sie sich fühlen, denn wir kennen ihre AKTE.

Es beunruhigt mich ein wenig, dass gerade der düstere Teil meines Lebens schwarz auf weiss festgehalten wurde, dass irgendwo eine AKTE existiert, die mich brandmarkt wie ein Mastschwein bei einer Auktion. Es ist, als wäre der Rest meines Lebens ausgeblendet, der fröhliche Rest, der gute Rest, den niemand für erachtenswert hält, festzuhalten, irgendwo aufzuschreiben. Wie ich Felix auf dem Flohmarkt kennenlernte, zum Beispiel. Wie glücklich ich war, als ich erfahren habe, dass ich schwanger bin. So etwas interessiert sie natürlich nicht, diese bebrillten Fachidioten, nein. Das einzige, was sie begutachten, was in die AKTE kommt, ist diese winzige Episode in meinem Leben, als ich einfach für einige Zeit die Rolläden verschlossen habe und mir die Decke über den Kopf gezogen habe. Als ich vielleicht ein bisschen zu viel über den Tod nachgedacht habe und weniger über das Leben. Als ich mich vielleicht ein klein wenig zu oft krank schreiben habe lassen, weil ich zu Hause lieber die Ritzen an der Wand gezählt habe.

Kein Grund zur Sorge, es geht mir gut.

Okay, jedenfalls stand einer dieser Marsmenschen mit mir im Flur des Krankenhauses (kann eigentlich jemand bei dieser kotzgrünen Farbe der Wände wieder gesund werden ?) und redete auf mich ein und es blieb nichts hängen im Kleiderschrank meiner Erinnerung ausser der letzte Teil des letzten Satz : „...und wenn sie es schon nicht aus den eben erläuterten Gründen tun, dann wegen ihrer Tochter. Ich verspreche Ihnen, in 18 Jahren wird sie es Ihnen danken."

Das ist wohl der wahre Grund, warum ich dies hier tue. Ich weiss, 18 Jahre ist eine lange Zeit und bis dahin wird noch viel Wasser die Donau hinunter fließen, wie mein Großvater immer zu sagen pflegte, aber es wäre doch schön, wenn meine Tochter eines Tages im fernen Land Zukunft zu mir kommt, dieses Tagebuch schwenkend, während ich in einem Schaukelstuhl auf der Veranda sitze (woher dieser Schaukelstuhl und diese Veranda auch kommen mag, aber da lasse ich nur meine Phantasie schweifen). Sie, meine Tochter, mein Kind mit den wundervollsten blauen Augen, die die Welt je gesehen hat (es sind meine Augen, die mich heute so klar und neugierig ansehen wie ein tiefer Brunnen, in dem sich das Brackwasser des Lebens erst noch sammeln wird, leider sammeln wird, muss man wohl sagen), sie kommt zu mir und ruft erstaunt lächelnd : „Sieh mal, was ich gefunden habe! Darf ich das mal lesen?"

Ich weiss noch nicht, wie einmal ihre Stimme klingen wird, auch das liegt im fernen Land Zukunft, einem Land, in dem die Menschen nur schemenhafte Skizzen sind und die Landschaft sich ständig verändert, aber ihr Lächeln ist eindeutig das ihres Vaters, das kann ich heute schon sagen. Es ist dieses leicht spöttisch-liebevolle Grinsen, das manchmal wie bei einem streicherfahrenen Lausbuben verschämt wirkt (oje, ich hab die Lieblingstasse meiner Frau unabsichtlich fallen gelassen, jetzt halte ich die Scherben hinter meinem Rücken versteckt und hoffe, dass sie es nicht merkt, dann kann ich es vielleicht später auf die Katze schieben). Manchmal wirkt es auch etwas schulmeisternd ( Süße, bei DEM Thema brauchst du mir nichts vorzumachen, das weiss ich besser als du) und dann könnte ich jedes Mal regelrecht aus der Haut fahren. Es ist schon seltsam, wie viele Nuancen ein geliebtes Gesicht haben kann, wie jede einzelne Stirnfalte plötzlich eine Bedeutung bekommt, jede Bewegung des Mundwinkels vertraut ist, jeder Laut...nein, das geht nun etwas zu weit.

26.02.04.:

Ich bin erst seit drei Monaten im Amt und schon wächst mir die Arbeit über den Kopf. Das habe ich aus irgendeinem Film, ich weiss nicht welchem, auf jeden Fall ist der Spruch vom Präsidenten der Vereinigten Staaten, der sich in seiner kurzen Amtszeit mit irgendwelchen Terroristen herumschlagen muss. Ich muss mich zwar nicht mit Terroristen herumschlagen, und ich bin auch nicht 3 Monate im Amt, sondern erst eine Woche, aber trotzdem ist es schwieriger, Mutter zu sein, als angenommen. Ich weiss nicht woher diese seltsame Annahme rührt, es sei ganz selbstverständlich zu wissen, was so ein kleines Kind braucht, eine Mutter würde es wissen, warum ihr Kind schreit, ganz intuitiv. Das ist Blödsinn. Vielleicht sind diese intuitiven Kräfte zugunsten der wenig intuitiven Masse an Lebensratgebern flöten gegangen, vielleicht bin ich einfach eine schlechte Mutter, keine Ahnung. Aber soviel steht fest : Wenn Lea schreit, natürlich vorzugsweise um 3 Uhr morgens, dann brauche ich mindestens eine Stunde, um die Kleine zu beruhigen und in dieser Zeit versuche ich alles, was die Checkliste hergibt : Windeln – sauber, Hunger – nein, danke, kleine Melodien – macht es nur schlimmer.

Besorgt frage ich mich, ob Lea vielleicht krank ist und es ist mir fast schon zur Gewohnheit geworden, ein Fieberthermometer neben dem Kinderbett aufzubewahren, nur für alle Fälle. Es scheint jedoch einen anderen Grund für Leas Weinkrämpfe in der Nacht zu geben, einen für mich nicht ersichtlichen, als ob das Kind mir etwas mitteilen will, das für sie ganz selbstverständlich ist wie für andere ein Händeschütteln oder eine Bemerkung über das Wetter. Sie weint in den stillsten Stunden der Stadt, um drei morgens, in denen man nur das magnetisch hypnotisierende Brummen der Oberleitungen hört, anders, schriller als am Tag. Können Babys Alpträume haben ? Felix meinte, das sei Unsinn, wie sollte ein Kind, das noch nicht mal 30 Zentimeter weit sehen kann, das sich noch nicht mal selbständig auf den Rücken rollen kann, einen so grauenvollen Alptraum haben, dass es eine Stunde lang weint ? Und überhaupt, was soll Lea denn schon träumen, grinste Felix weiter in gewohnt tadelndem Spott – ja, sogar das Lächeln passt genau, ich hab es ja gesagt, er sieht dabei immer aus wie ein Talkshow-Moderator, der sich nur mit Mühe dem geistigen Niveau seiner Gäste anpasst, dieses : Nun kommen Sie schon, das kann doch nicht ihr Ernst sein.

Wird Lea etwa von den bösen Teletubbys verfolgt, die sie in ihre dunkle Höhle im ewigen Oh-oh-Land verschleppen ? Darüber musste ich lachen, obwohl mir der Gedanke, mein kleines Mädchen könnte Ängste ausstehen, vor denen ich sie nicht beschützen kann, weil sie ausserhalb meines Zugriffs stattfinden, gar nicht behagte.

Ansonsten sind wir eine richtige Bilderbuch-Familie: Prinz und Prinzessin, wobei Prinz sich täglich mit wichtiger Regierungsarbeit beschäftigt, während Prinzessin zu Hause sitzt, Kindergeld in Anspruch nimmt, näht, strickt und ein Tagebuch führt (noch so ein Teenie-Traum, nur reitet mein Prinz nie auf weissen Schimmeln), Prinzessin Jr., die das schönste Kind im Königreich ist (ich weiss, das behauptet jede Mutter, doch auf Lea trifft es wirklich zu, ich schwöre), fehlt nur noch das Schloss und der weisse Gartenzaun (oder der Burggraben).

Das mit dem Schloss wird zwar noch eine Weile dauern, aber für uns stand immer schon fest, dass unser Kind einmal in einem Haus aufwachsen wird. Die Wohnung ist einfach zu klein, und wenn Lea größer wird, gelernt hat, nein zu sagen und wütend auf uns wird, weil sie in den Sommerferien nicht alleine mit ihrer Freundin nach England fahren darf (sicher nicht in deinem Alter, Kind, nur über meine Leiche) ist ein Haus genau das Richtige, um Türen hinter sich zuzuschlagen. Wir haben uns sogar schon ein paar Häuser in den Aussenbezirken Wiens angesehen, doch irgendwie passte keines zu uns. Und damit meine ich nicht etwa unsere finanziellen Möglichkeiten oder die Entfernung zu Schule und Arbeitsplatz, sondern ein nie zugegebenes und doch vorhandenes Gefühl von Heim und Herd. Ich weiss zwar nicht genau, wo ich einmal leben möchte oder wo einmal meine Kinder und Enkelkinder aufwachsen sollen, aber sicher nicht in diesen sterilen Designerhäusern, die unerhört laut nach Chrom schreien, nach funktionaler Leere.

Halt – das Babyphon...ich komme, Schatz.

01.03.04:

Liebe Lea!

An Dich persönlich zu schreiben scheint mir nun das einzig Richtige, das Einzige, das mir nicht das Gefühl gibt, eine Frau in mittleren Jahren zu sein, die noch immer Liebesbriefe an den Leadsänger einer Boyband schreibt und um Punkt 12:00 zu Hause sein muss, um `Reich und Schön´ nicht zu verpassen. Wenn ich je so eine Mutter werden sollte, kauf dir eine Waffe ( natürlich haben wir keine im Haus, diese paranoiden Wahnvorstellungen eines ominösen Feindes sind eindeutig zu amerikanisch) und erschieß mich!

Dein Vater ist gerade zu einer mehrtägigen Konferenz nach Indien aufgebrochen und es hat ihm das Herz gebrochen, dich und mich zurückzulassen. Tatsächlich ist er drei mal im Abstand von 5 Minuten wieder zur Tür hereingekommen, angeblich weil er noch etwas vergessen hat, doch da kenne ich ihn besser, denn er musste jedes Mal einen Blick auf dich werfen, um sich zu vergewissern, dass du noch da bist. Ich habe sicher schon eine Million Photos von dir geschossen und natürlich bewahrt eines davon dein Vater in seiner Brieftasche, aber das Original ist ganz und gar nicht mit der Kopie zu vergleichen, da muss ich ihm schon recht geben. Nimm es ihm nicht übel, dass er so selten zu Hause ist, er liebt dich sehr und gibt dich nicht mehr aus seiner Hand, wenn er am Abend nach Hause kommt. In zwei, drei Jahren, wenn du etwas älter bist, möchte er sich auch eine Babypause gönnen, dann werde ich diejenige sein, die dich selten zu Gesicht bekommt, und er verbringt die ruhigen Tage mit dir. Diese Tage verbringst du wie jedes andere Baby auch mit dem Versuch, deine Beinmuskulatur mit heftigem Strampeln zu stärken und das Mobile aus Schmetterlingen über dir mit deinen kleinen Fingern zu erreichen. Nur ärgerlich, dass du noch nicht einmal sitzen kannst, geschweige denn stehen, also bleibt zu deinem Leid und meiner Freud das Perpetuum noch etwas länger bestehen.

Die Nächte sind es, die mir Sorgen bereiten. Wovor hast du solche Angst ? Anfangs dachte ich, dass deine ausgedehnten Mittagsschläfchen dich in der Nacht wach halten und versuchte alles, um dich am Tag nicht zu früh einschlafen zu lassen, aber daran liegt es nicht, oder ? Du schläfst anders, viel ruhiger am Tag als in der Nacht und das ist nicht bloße Einbildung. Wenn du am Nachmittag aufwachst, siehst du mich an, als wärst du jetzt, nach diesem exquisiten kleinen Schläfchen, wieder zu neuen Schandtaten bezüglich der Schmetterlinge über deinem Kopf bereit, aber in der Nacht...Gestern bin ich auf der Couch eingeschlafen und gerade rechtzeitig um halb drei Uhr morgens aufgewacht, bevor du neuerlich aus Leibeskräften gebrüllt hast. Ich habe mich über dein Gitterbett gebeugt und du schlugst die Augen auf. Es war...ich weiss, wie sich das jetzt anhört, aber mein erster Gedanke war, auf der Stelle zu verschwinden. Raus aus der Wohnung, weg von dir, weg von Felix, der Katze, dem Traum von unserem neuen Zuhause. Ich weiss noch, wie ich unwillkürlich einen Schritt zurück ging, einen Schritt in Richtung Tür, aber dann war dieses geradezu absurde Verlangen nach Flucht wieder verschwunden, wenn es jemals da war. Du warst wieder nur...na ja, du, mit in Tränen schwimmenden großen Augen, aber es waren deine blauen Augen, nicht die tiefschwarzen, die ich mir in meiner offensichtlichen Übermüdung eingebildet hatte. Wenn die Augen wirklich der Spiegel zur Seele sind, dann waren diese Exemplare definitiv der Vorhof zur Hölle. Nein, das klingt wieder so dramatisch, und es stimmt nicht. Sie waren erfüllt von einer wissenden Intelligenz, aber nicht einer bösen, sondern einer, die mit hinnehmender Apathie ihr Schicksal ertragen. Diese absolute Machtlosigkeit darin war es, die meine Wirbelsäule wie eine Spinne aus Stahl entlag kroch und meinen Kopf mit klebriger Zuckerwatte füllte, bis ich das Gefühl hatte an heisser Luft zu ersticken, während mein Körper immer noch diesen einen fatalen Schritt tun wollte, diesen Schritt hinaus. Ich glaube, es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis ich meine Finger von dem Gitterbett lösen konnte, eine Ewigkeit, in der du dir den Schmerz aus dem Leib gebrüllt hast, aber als Felix mit verschlafenen Augen in der Tür stand, hatte ich dich schon auf dem Arm, klopfte dir sanft auf den Rücken und schaukelte dich beruhigend. Ich glaube nicht, dass dein Vater etwas bemerkt hat. Ich hoffe, dass es so ist.

03.03.04:

Ich habe dich gleich ins Krankenhaus gebracht, gleich nachdem ich aufgewacht bin. Obwohl ich auf der Fahrt dorthin schon mit jeder Faser meines Körpers gewusst habe, was mich dort erwarten würde, wollte ich es nicht wahrhaben. Nein, bestätigte mir auch der Marsianer, Ihre Tochter ist nicht krank, wir haben aber zur Sicherheit ein CT angeordnet, damit wir alle Eventualitäten ausschließen können. Eventualitäten ist einer dieser Begriffe, die sicher nicht mehr im Wortschatz eines normal Sterblichen vorkommen, aber die diese Spezialisten für Fremdwörter oft und gerne gebrauchen, um sich von der Masse abzuheben. Doch noch schlimmer als diese neuerliche Flut von Fachbegriffen sind die Blicke der Schwestern zu ertragen gewesen, diese giftigen Pfeilspitzen der Menschlichkeit. Sie hielten mich für hysterisch, vielleicht sogar für eine jener Mütter, die um der Aufmerksamkeit willen ihr Kind ins Krankenhaus schleift. Und das Schlimmste daran ist, dass sie wahrscheinlich recht haben. Mit meiner gestotterten Erklärung über die Symptome habe ich mich definitiv ins mentale Abseits geschossen, und wenn ich nicht so verdammt besorgt, so wahnsinnig panisch gewesen wäre, müsste ich jetzt nicht einen Termin beim Psychiater des Krankenhauses wahrnehmen.

Der Alptraum beginnt schon wieder zu verblassen...vielleicht war ja alles nicht real, nicht echt, vielleicht bin ich bloß schlafgewandelt und habe mich am Herd verbrannt...

Aber das hört sich so unsinnig an, schon allein deswegen, weil die Brandwunde auf meinem Handrücken sternförmig ist, und wir nichts Vergleichbares zu Hause haben. Jedenfalls nichts, das sich ins Fleisch brennen könnte.

Die andere Erklärung wäre...nein, das kann ich noch nicht aufschreiben, das hört sich selbst in meinem Kopf noch so vollkommen verrückt an, dass es unmöglich wahr sein kann.

Und wenn ich es aufschreiben würde, würde es wie etwas klingen, das mich einen Schritt näher zu einem Abgrund führt, in dem das Tageslicht nie scheint und die Dunkelheit nur von noch schwärzeren, schemenhaften Schatten abgelöst wird.

Und danke schön, da war ich schon einmal.

10.03.04:

Dr. Renezeder meinte, es wäre sinnvoll, diese Alpträume niederzuschreiben, die mich so verängstigen, also tue ich es hiermit. Ich halte diesen Psychiater zwar nicht gerade für ein Genie; er ist so verdammt jung und es fällt mir schwer, ihn überhaupt ernst zu nehmen. Er war eine Woche lang in Tirol Snowboarden – Snowboarden? Wie alt kann dieser Junge überhaupt sein ?- und war erkältet. Als er zu niesen begann, war mein erster Reflex, ihm eines von diesen hübschen Taschentüchern anzubieten, die auf seinem spiegelglatten Tisch stehen. Fast wäre ich aufgesprungen, hätte ein Taschentuch genommen und es ihm mit den Worten : „Fest schnäuzen, Sohn!" unter die Nase gehalten. Bei diesem Gedanken hätte ich beinahe laut gelacht, aber unter den gegeben Umständen schien mir das wenig ratsam. Seine Diagnose lautete zwar in dieser ersten Sitzung auf eine Überdosis Stress, aber während er in seinen schicken, schwarzen Kalender unseren nächsten Termin eintrug konnte ich noch etwas anderes in seinen Augen erkennen. Übereifer ? Die Gier nach seinem ersten, wirklich ernsten Fall? Naja, vielleicht bilde ich mir das ja nur ein.

Auf jeden Fall soll ich jetzt die seltsamen Träume beschreiben, die mich seit einer Woche heimsuchen wie ein unliebsamer Bekannter, den man plötzlich in jedem Lokal und in jedem Restaurant wieder trifft, so sehr man sich auch bemüht, ihm auszuweichen.

Dieses Traumtagebuch soll helfen, objektiv über das Geträumte zu reflektieren und eine Art Traumdeutung zu erstellen, wobei ich immer dachte, dass sei sein Job (Wahrscheinlich ist er mehr damit beschäftigt, Mädels aufzureissen, oder mit Freunden abzuhängen, oder was auch immer Teenager in seinem Alter heutzutage tun).

Die Alpträume begannen vor einer Woche, als du wieder einmal mitten in der Nacht geschrien hast. Es war wieder halb drei morgens, und ich weiss nicht, wer zuerst aufwachte. Ich, weil ich schon auf diese Zeit gedrillt war wie ein Pawlowscher Hund, oder du, die geweint hat. Ich bin zu dir rüber gegangen, hab dich eine Zeitlang auf meinen Armen geschaukelt und muss dann in dem Sessel neben deinem Bett eingeschlafen sein.

Aufgewacht bin ich in einem Schaukelstuhl, der leise auf Dielenbrettern gequietscht hat. Die Sonne stach mir durch die Augen und noch bevor ich sie öffnete, wusste ich, dass es Sommer war. Eine Biene versuchte krampfhaft, durch eines der großen Panoramafenster ins Haus zu gelangen, und welches Geräusch ist mehr Beweis für Sommer als kleine Flügel, die gegen das Fenster brummen, wie der kleinste, fehlgeleitete Elektromotor der Welt ?

Es war das Haus, das ich mir immer gewünscht hatte. Ich saß auf der Veranda in diesem lächerlich omahaften Schaukelstuhl, der sich glatt und weich anfühlte, wie etwas, auf dem schon Generationen vor mir gesessen hatten, und das sich dem jeweiligen Körper im Laufe der Zeit perfekt angepasst hatte wie ein gut sitzender Taucheranzug. Die knarrenden Holzdielen sahen neu aus, aber das waren sie nicht, das Holz war bloß bearbeitet worden, bis es wieder wie neu aussah. Das Haus selbst war atemberaubend. Klein, ebenerdig, mit einem kleinen Dachgeschoss, eine unglaublich pittoreske Kombination aus Holz und neuem, weissen Anstrich. Es drängte sich in die Erde, als ob es sich seines idyllischen Aussehens schämen würde und versteckte sich hinter Efeu, das stellenweise vor die Fenster fiel wie Haare vor Augen. Ein Windspiel drehte sich sanft klirrend in der sommerlichen Brise, ein Geräusch, dass mir irgendwie bekannt und vertraut vorkam, obwohl ich nie selbst solche Metallröhren besessen habe.

Holzstufen führten in den kleinen Garten, der frisch gemäht worden war, ein Steinofen lud zu Grillpartys mit hell erleuchteten Lampions ein, lud zu lachenden Menschen ein, die eine Geburt feierten, eine Beförderung, eine Hochzeit.

Und dann hörte ich Kinderlachen. Das Lachen meiner Tochter, die in unserem Garten spielte und mit irgendjemandem redete, dem Gebell nach zu urteilen mit unserem Hund ( wir haben keinen Hund, dachte ich kurz, nur eine Katze, sie heisst Katze, weil sie auf keinen anderen Namen hören wollte, das pragmatische Tier). Ich stand jetzt auf den Stufen zum Garten, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, dorthin gegangen zu sein und spähte in dieses helle Licht ( es ist heiss, die Sonne ist zu grell), aber der Garten war leer. Der Garten führte auf die Straße, das Tor stand offen und knarrte wie die Holzdielen (wahrscheinlich das gleiche Holz). Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße stand ein Briefkasten vor einer Einfahrt. Ein Rasensprenger bewässerte den Rasen links und rechts zur Einfahrt, tuckerte in seinem regelmäßigem Tack-tack-tack-trrr-tack-tack-tack. Ich bin kurzsichtig, trotzdem konnte ich den Namen auf dem Briefkasten erkennen, den Namen unserer zukünftigen Nachbarn. Kann man eigentlich so detailiert träumen ?

Gerade wollte ich mich umdrehen und in mein Haus zurückgehen, als Lea meinen Namen flüsterte. „Mami?" Direkt in mein Ohr, aber sie konnte doch niemals schon so groß sein, oder ? Ich wirbelte herum, und dann, oh mein Gott, sie hatte kein Gesicht! Ich fiel rücklings hin, wollte schreien, wollte sie nicht ansehen, dieses Ding, das nie meine Tochter sein konnte, aber dann sah ich es. Sie hatte ein Gesicht, natürlich hatte sie eines, aber es war hinter einem Vorhang aus schwarzem, dichten Haar verborgen, sodass nicht einmal ihre Nasenspitze herauslugte, Efeu vor den Fenstern. Aber das war es nicht, jedenfalls nicht ganz und die Augen tränten mir vor diesem Anblick, der sich mir entziehen wollte wie ein 3-D-Muster, das sich nie zu einem Bild zusammensetzte. Es zu sehen war wie jemanden dabei zu beobachten, wie er ganz langsam seine Nägel auf eine Schiefertafel setzt und sie quietschend hinunterfährt während die Nägel sich zuerst nach hinten verbiegen und dann schmerzhaft nah am Nagelbett abbrechen.

Sie stand vor mir, mit einer blauen Latzhose und roten Turnschuhen, die Schuhspitzen in meine Richtung gewandt. Doch ihr Gesicht...es war nur der Hinterkopf, den ich sehen konnte, als ob ihr Kopf falsch auf dem Körper saß, ihr langes Haar fiel über ihre Brust, ordentlich geschnitten, und dort, wo eine Nase hätte sein sollen, ein Mund und Augen, war bloß die runde Beule ihres Hinterkopfes. Ich sah das alles mit schrecklicher Deutlichkeit, sah die Holzdielen hinter ihr zum Haus hinauf, sah eine Ameise über ihren roten Turnschuh krabbeln, aber Leas Kopf entzog sich irgendwie meinem Blickfeld, verschwamm, wollte nicht genau gefasst werden wie eine Bewegung hinter meinem Rücken, die ich spüre, aber nicht sehe.

Schon länger hielt sie mir ein rot gebundenes Buch hin, aber ich war ausserstande danach zu greifen. Mit kindlichen Buchstaben aus Plastelin war das Wort „Tagebuch" darauf geformt, und da ich dachte, es konnte nicht schlimmer werden, nahm ich es schließlich doch. Es war leer, die Seiten weiss und unberührt. Ich blätterte das Tagebuch durch, hektisch, und da, in der Mitte, wurden die Seiten schwarz, aber nein, fiel mir auf, nicht die Seiten des Buches waren es, die schwarz wurden, sondern der Himmel über uns. Es war Nacht geworden, eine sternenklare, leuchtende Nacht wie man sie niemals in der Stadt sieht, sondern nur ausserhalb, wo der Himmel noch zum Greifen nahe scheint und nicht durch eine Wolke Smog oder Neonröhren zu etwas belanglos Irrealem verblasst.

Wir waren nicht alleine. Menschen knieten auf der Straße, ihre Hände waren hinter dem Rücken gefesselt. Sie waren nebeneinander und hintereinander in militärischer Formation aufgereiht wie Skulpturen und starrten mit aufgerissenen Mündern in den Himmel. Alle trugen dieselben Sonnenbrillen vor den Augen, die keine Sonnenbrillen waren, sondern Nachtsichtgeräte, die auf den Augen klebten und mit ihnen verschmolzen.

Dann kam der Meteoritenschauer. Es passierte so vieles gleichzeitig, es fällt mir schwer, es linear wie eine Schnur zu erzählen, wenn es doch eher ineinander übergehend wie ein Gordischer Knoten geschah. Das Windspiel über der Veranda veränderte seine Tonlage, wurde schrill und atonal wie eine Feuerwehrsirene zur Mittagszeit, als würde eine bevorstehende Katastrophe durch dieses lauter werdende Scheppern und Klirren angekündigt; mein Pulsschlag beschleunigte sich, wurde eins mit den schneller werdenden dissonanten Frequenzen der Metallstäbe, die sich jetzt anhörten wie die Pulsfrequenz eines Monitors in einem Krankenhaus, kurz bevor die Ärzte hereinstürmen und die Schwestern mit dem Defibrilator anrollen.

Gleichzeitig fielen weisse Punkte vom Himmel, als würden Leuchtwürmchen abstürzen, dann hinterließen die Leuchtwürmchen dichte Kondensstreifen am Himmel, Feuerspuren, die den Himmel brennen ließen und glühende Kreuzmuster ans Firmament malten, Regenbogen aus geräuschloser Lava. Und gerade, als ich mich besorgt fragte, ob die Meteoriten auch wirklich in der Erdatmosphäre verglühten, fing Lea an zu schreien. Sie weinte nicht wie ein kleines Mädchen, sondern wie ein Baby, wie meine Lea immer um halb drei Uhr morgens weint, und da wusste ich, dass ich träumte, dass ich ihren Traum durch meine eigenen Augen träumte.

Plötzlich wollte ich nichts mehr davon sehen. Kann man im Traum sterben? Ist das die ganze Wahrheit, wenn jemand tröstend sagt: `Sie ist friedlich im Schlaf von uns gegangen´? Sterben die Menschen in ihren Betten aus Angst davor, was sie in ihren Träumen erfahren haben, aus Angst davor, was passieren wird? Vielleicht flüchten diese Leute ja wirklich in die ewige Ruhe, vielleicht ist das der Notausgang aus dem unvermeidlichen Morgen. Wäre es nicht immerhin möglich, dass unser Unterbewusstsein unsere Zukunft kennt und dann eine Entscheidungshilfe anbietet wie in dieser Fernsehshow, in der der Kandidat zwischen verschiedenen Türen wählen darf? Wählen Sie Tür A, hinter der eine kurze Zukunft lauert, die direkt in deinen Tod und den Tod deiner Angehörigen und aller Menschen führt oder wählen sie Tor B, kurz und schmerzlos, jetzt besser als später?

In meinem Traum hatte ich das Wahlrecht verwirkt. Es lag nicht mehr in meiner Hand. Ich konnte nur zusehen wie der Himmel plötzlich weiss und violett wurde, ich konnte nur fühlen, wie die Luft aus meinen Lungen gepresst wurde und ein stilles Vakuum die Welt einhüllte, eine Leere, die die Panoramafenster klirrend zum Bersten brachten und die Dielen auf der Veranda nach innen verbogen. Die Metallrohre des Windspiels schlugen immer noch hektisch aufeinander ein, aber ich konnte keinen Ton davon hören, als ob die ganze Welt unter einer riesigen Saugglocke gefangen war, die jedes Geräusch verbot und verschluckte, wie das Auge eines Hurricans.

Vögel, denen die Luft zum Atmen fehlte, stürzten ab und verendeten in sekundenschnelle auf dem Rasen meines Hauses, der Rasen selbst wurde gelb und rollte sich von selbst ein, zog sich zurück wie eine Schnecke. Unser Hund – wir werden einen Hund haben, einen Collie – fiel wie ein Stein zur Seite und blieb liegen. Er blutete aus den Augen und aus der Nase, doch ihm blieb noch ein vorwurfsvoller Blick auf mich, bevor er starb. Ich wollte nach Lea greifen, sie an mich ziehen, doch meine Hand fasste ins Leere. Sie war fort, tot wahrscheinlich und ich konnte sie am Ende nicht halten, nicht in den Schlaf wiegen, nichts für sie tun.

Die Welt wurde rot, als meine Augen zu bluten anfingen und aus ihren Höhlen traten. Ich schlug meine Hände vors Gesicht, versuchte mit Gewalt zu verhindern, dass meine Augen sich von den Muskelsträngen lösten und einfach aus dem Kopf fielen, aber das reissende Geräusch in meinem Kopf war unüberhörbar das Ende meiner Sehfähigkeit. Ich hatte keine Schmerzen, nur dieses dumpfe Pochen in meinem Schädel, doch das war mir in diesem Moment kein Trost, wusste ich doch, dass ich eines Tages diese Schmerzen würde erleiden müssen. Ich und meine Tochter, mein Mann, meine Eltern und der Rest der Welt.

Ich starb auf dem Rasen vor meinem Haus, aber es war ein langsamer, quälender Tod. Ich war blind, konnte nicht atmen, erstickte, betete für ein rasches Ende, das sich einfach nicht einstellen wollte, hörte die Schreie von anderen, die dasselbe Schicksal teilten.

Wie lange kann man eigentlich mit einem viel geringerem Sauerstoffgehalt in der Luft durchhalten? Wie lang kann man auf einem hohen Berg ohne Sauerstoffmaske überleben? Ich weiss es jetzt: Eine Stunde, dieselbe Stunde von halb drei Uhr Morgens bis halb vier Uhr morgens, die Lea durchgehend weint und schreit. Und ich glaube, man wird zuerst halb wahnsinnig, bevor es endlich vorbei ist...

Aber es war nicht vorbei, nicht für mich. Plötzlich schwebte ich über dem Haus, meinem Traumhaus und der netten kleinen Vorgartensiedlung am Rande der Stadt. Ich roch verbrannte Erde und sah Feuer und Rauch aus mehreren Häusern in der Nähe schlagen. Der Briefkasten meiner Nachbarn war zu einem Klumpen Metall geschmolzen, der Rasensprenger rauchte und dampfte noch von den letzten, sinnlosen Tropfen Wasser. Irgendetwas biss in meine Hand und als ich sie wegzog, war das Fleisch auf meinem Handrücken versengt und glühte sternförmig an den verkohlten Enden. Ein kleiner Meteorit hatte mich getroffen, ein brennend heisses Stück Stein, das nicht von dieser Erde war, aber ich spürte es kaum, zu sehr war ich fasziniert und entsetzt zugleich von dem, was sich vor mir am Horizont abspielte.

Wiens Skyline war orange und glühte in der flimmernden Hitze der Luft. Hatte dort einmal das Riesenrad gestanden? Oder dort der Millenium Tower? Die üblichen Bezugspunkte gab es nicht mehr, nur noch den alles umhüllenden Rauch und verkohlte Papierfetzen, die durch die Luft wirbelten wie kleine Drachen, die Feuer spien. Es regnete schwarze Asche und Glassplitter, als die riesigen Fenster der Bürogebäude das Schicksal meines kleinen Hauses teilten, doch niemand schrie oder weinte. Ich sah keine Angestellten aus den Büros rennen oder Menschen, die wie wild auf der Straße durcheinander liefen. Niemand stürzte sich verzweifelt aus dem obersten Stock seiner Wohnung und keine Mutter beklagte das Schicksal eines unter den Trümmern begrabenen Kindes. Es waren auch keine Sirenen zu hören, nur das kreischende Krachen einstürzender Stahlbauten. Da traf es mich wie ein Schlag: Es gab keine Feuerwehrmänner mehr, die den sinnlosen Kampf hätten aufnehmen können. Es gab auch keine Menschen mehr, die mit fassungslosen Gesichtern auf das verdampfende Wasser der Donau starren konnten. Nicht einmal Kamerateams gab es noch, die dieses unbegreifliche Geschehen aufzeichnen konnten, für die Nachwelt erhalten konnten.

Es wird keine Nachwelt mehr geben.

10.04.04:

Bin gerade aufgewacht. Keine Träume mehr, aber von den Schlafmitteln wird mir jedes Mal übel. Ganz abgesehen von diesem seltsam pelzigen Geschmack im Mund, ein Geschmack nach Schimmelpilz.

Es ist ruhig in der Wohnung. Felix arbeitet wieder einmal länger, aber das macht nichts. Vielleicht hat er ja eine Geliebte und wäre das nicht das Komischste, das die Welt je gehört hat? Ich liebe ihn, aber selbst das erscheint mir in letzter Zeit unwichtig. Was hat überhaupt noch eine Bedeutung? Aufstehen am Morgen? Zur Arbeit gehen? Rechnungen bezahlen und einen Bausparvertrag abschließen? Wofür? Ich sitze manchmal in der Küche, sehe aus dem Fenster, sehe die Menschen, wie sie all diesen kleinen Nichtigkeiten nachgehen, als ob sich nichts geändert hätte. Weiterhin stehen Autos im Stau und hupen, um schneller in die Arbeit zu kommen, der Fensterputzer geht weiterhin seiner Sissyphusarbeit nach, die Nachbarin erzählt mit halblauter Stimme weiterhin den neuesten Klatsch. Alles so wie immer, und dabei ist nichts so wie es sein sollte. Die Uhr tickt, und sie wird lauter.

Die Lebenden trauern um die Toten, aber wer trauert, wenn es keine Überlebenden gibt? Die Welt ? Das Universum? Gott, dessen Wege so unergründlich sind, dass er beschlossen hat, von vorne anzufangen, zurück zum Start, Monopoly für eine höhere Macht?

Ich habe gerade in den Spiegel gesehen. Das Gesicht, das ich damals vor zwei Monaten in Leas Kinderbett gesehen habe, war meines. Die dunkeln Augen, die Lethargie, die Leere- die Frau im Spiegel, die Frau in Leas Kinderbett- es ist ein und dieselbe Person.

Zwei Monate. Habe ich tatsächlich noch vor zwei Monaten geplant ein Haus zu kaufen?

Ach ja, übrigens haben wir jetzt einen Hund. Einen Collie-Welpen, den Felix von seiner Geschäftsreise mit nach Hause brachte. Ich glaube, meine Reaktion fiel anders aus, als er erwartet hatte...

12.05.04

Schön, dieser Mai, alles blüht, alle blühen auf, auch Felix, Felix der glückliche, der Zufriedene, der Mann, der in der Vision nicht da war. Wo warst du Glücklicher, hast du dein Glück woanders gefunden? Ich sehe aus dem Fenster, da blüht ein Maibaum, ich gehe nicht raus, ich gehe schlafen, mein Kopf ist so flauschig, bauschig, mag nicht mehr schreiben, Lea weint wieder, vielleicht der Meteoritenschauer, der schweif, der feurige, der Luftaussauger, wer weiss, wen kümmerts, ich fass sie nicht an, mag das nicht mehr sehen, was sie sieht, Windeln wechseln kann der Glückliche auch, aber er ist nicht da, wo ist er, arbeiten, schon wieder, Konferenzschaltung nach Hongkong, mein Prinz, wichtige Regierungsarbeit? Und ich, im Schloss, gefangen mit der stechenden Nähnadel, giftige Nadel, sticht und alles bricht zusammen, verrankt, umrankt mit Efeu wie Haare vor den Fenstern?

07.07.04

Ich muss eine Entscheidung treffen. Gott sei Dank habe ich die Medikamente abgesetzt, die hindern mich am Denken. Habe gerade meine letzte Eintragung nochmals überflogen – verrücktes Zeug, das niemals jemand zu Gesicht bekommen sollte. Ich weiss jetzt, dass Lea dieses Tagebuch sowieso nie vor meiner Nase schwenken wird, wenn sie 18 ist, deswegen habe ich mich vielleicht etwas hinreissen lassen, aber damit ist jetzt Schluss.

Ich wollte lange Zeit die Lösung nicht sehen, konnte nicht daran denken, weil mir die Medikamente das Gehirn vernebelt haben, aber dieser Fehler unterläuft mir jetzt nicht mehr. Ich sehe jetzt alles viel klarer – ich wähle Tor B.

Ich werde niemanden retten können und es wäre absurd, auch nur daran zu denken. Was soll ich denn machen? Mit einem Plakat herumrennen und mit der Bibel schwenken wie einer dieser Fanatiker? Eine Sekte gründen und meine Mitglieder dazu bringen, sich selbst zu vergiften? Dem Militär eine Skizze schicken, von einem Bunker, einer Arche Noah, irgendwas, was unsere Zivilisation am Leben erhält?

Niemand würde mir glauben, wahrscheinlich nicht einmal dann, wenn ihnen schon der Himmel auf den Kopf fällt. Nicht wenige werden mit einem Ausdruck im Gesicht sterben, der deutlich schreit: `Das darf doch nicht wahr sein!´ - und vielleicht ist es besser so, vielleicht ist der unvorhergesehene Tod der gnädigere Tod. Sagt man nicht den Angehörigen manchmal tröstend, es wäre schnell gegangen? Der Verstorbene hätte nicht leiden müssen? Und wie oft belügt man sie dabei?

Dr. Renezeder, der Junge, der wahrscheinlich nicht lange genug leben wird, um eigene Kinder zu haben, fragte mich einmal, was mich zu der Überzeugung bringt, dass meine schlimmsten Alpträume wahr werden könnten. Ich wusste, was er hören wollte. Es stand in seinem Gesicht geschrieben, so überdeutlich wie ein Werbeplakat, das hinter einem Flugzeug hergezogen wird. Ich gab ihm die Antwort, die sein Gewissen beruhigte, die ihm den erhofften Erfolg verschaffte, den Erfolg, der ihm nicht mehr oft in seinem Leben vergönnt sein wird. Also sagte ich etwas in die Richtung wie, ich glaube nicht mehr, dass meine Träume Visionen sind, sie sind nur Ausdruck meines Unterbewusstseins und können nicht eins zu eins übersetzt werden. Viel naheliegender ist eine Stressreaktion, ausgelöst durch die Tatsache, dass ich Mutter geworden bin und meiner Familie bald ein Umzug... bla, bla, bla...

Während ich zusah, wie mir Renezeder ein Rezept ausstellte, glücksselig, seinen ersten Fall so bravourös gelöst zu haben, erkannte ich, dass niemand mir jemals glauben würde. Dieser Junge saß vor mir, sein goldener Kugelschreiber eilte über das Papier und seine Zungenspitze war zwischen den Zähnen eingeklemmt und er war so...er strahlte diesen Enthusiasmus aus, diesen zukunftsorientierten Optimismus eines jungen Menschen, der gerade erst die Aufgabe in seinem Leben erkannt hat. Wie er dort auf diesem feinen Ledersessel mein Rezept ausstellte und mit dieser Gewissheit in eine für ihn vorgezeichnete Zukunft sah... Wahrscheinlich überlegte er sich genau in diesem Moment, wohin er im Sommer mit seinem ersten wirklich großen Gehaltsscheck auf Urlaub fahren soll, oder ob er sich wohl trauen soll, die junge, hübsche Chirurgin der Intensivstation zum Essen einzuladen, und die Zeit...die Zeit rann ihm durch die Finger, unsichtbar, wie flüssiger Stickstoff. Ich wandte den Kopf ab und täuschte einen Hustenanfall vor, damit er nicht sah, wie mir die Tränen in die Augen schossen, wie alles plötzlich zu viel wurde.

Tick tack, tick tack, die Uhr wird lauter.

Heute habe ich lange auf den Zeitungsausschnitt gestarrt, den einen, der mit dickem Filzstift schwarz eingerahmt war. Darunter standen die bemüht fröhlichen Worte meines Mannes, der nur versucht unsere Ehe zu retten; daraus kann man ihm keinen Vorwurf machen. Und ganz plötzlich war Dr. Renezeders Stimme in meinem Kopf, so echt, als würde er in seiner zerknitterten schwarzen Jeans direkt neben mir am Küchentisch sitzen.

`Warum halten Sie das für real?´

Weil ich nicht verrückt bin. Ich bin kein religiöser Spinner mit einem Plakat. Ich bin keine Sektenangehörige. Und ich kann sehr wohl mit dem emotionalen Stress einer Geburt und eines Umzugs fertig werden. Generationen von Müttern haben das vor mir geschafft, unter weitaus schlechteren Bedingungen, damit kann ich fertig werden.

Aber womit ich nicht fertig werde, ist ein schwarz-weiss-Bild in einer Tageszeitung, ein eingerahmtes Bild mit der fröhlichen Botschaft meines Mannes, meines zukünftigen Ex-Mannes, wie mir der Traum deutlich gemacht hat.

`TRAUTES HEIM, GLÜCK ALLEIN?´

Ein eingerahmtes Bild und die Kontaktadresse der Nachbarn – das war alles, um meine Entscheidung zu fällen. Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere, heisst es doch so schön, aber als ich dort an meinem Küchentisch saß, mit der Stimme meines Psychiaters im Ohr und das laute Ticken einer Küchenuhr im Hintergrund, war es, als ob alle Türen durch einen kalten Luftzug zuknallen und sich automatisch hermetisch verriegeln. Ich saß in der klaustrophobischen Falle einer stockdunklen Gefängniszelle, probierte zitternd alternative Türklinken, die sich nie wieder öffnen lassen würden. Doch jetzt weiss ich es, jetzt weiss ich, was zu tun ist...

Der Hund kaut auf Felix Socken herum und jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, sehe ich das Blut aus seinen Augen quillen, den vorwurfsvollen Blick, den er mir zuwirft, die roten Augen, die mich anstarren und sagen: Warum hast du das nicht verhindert? Du bist das Frauchen, du triffst die Entscheidung, also warum lässt du mich so leiden?

Natürlich habe ich auch die Alpträume wieder, sie sind zurückgekehrt wie chronische Krankheiten, aber es macht mir jetzt nichts mehr aus. Ich habe gesehen was passieren wird und meine Tochter hat mir einen Ausweg gezeigt.

14.07.04

Dies wird mein letzter Eintrag. Ich versuche vielleicht, all das Unbeschreibliche vor mir noch hinauszuzögern, aber mir bleibt keine andere Wahl, ich muss es niederschreiben. Ich habe dieses Tagebuch in einer anderen Zeit, in einem anderen Leben begonnen, ich muss es jetzt zu Ende bringen. Ich weiss nicht, ob ich mir dadurch selbst Absolution erteilen möchte, oder ob mir die Nachwelt vielleicht nur verzeihen kann, wenn sie das hier liest,...

Felix ist weg. Wir hatten einen riesigen Streit, in dem es um etwas ganz Belangloses ging, um die leere Tüte Milch, die er wieder einmal in den Kühlschrank gestellt hat, aber es war nur ein Vorwand, um ihn loszuwerden, es war nur ein Vorwand, seinen argwöhnischen Blicken für ein paar Stunden zu entkommen. Ein paar Stunden werden ausreichen.

Es tut mir so leid, mein geliebter Prinz! Gib dir nicht selbst die Schuld daran, das hat nichts mit dir zu tun! Du warst ein guter Ehemann, ein fantastischer Vater, also belaste den Rest deines Lebens nicht mit Schuldgefühlen. Folge mir, wenn du kannst, ich werde warten. Du hast recht: Das Haus war mein Traumhaus, in doppeltem Sinne. Ich habe es gleich erkannt, als ich den Namen der Nachbarn gelesen habe, der als Kontaktadresse angegeben war: Gottfried. Als Nachname ungewöhnlich, nicht wahr? Aber ich habe den Namen schon einmal gelesen, auf dem Postkasten in meinem Traum, in unserem Traum, dem von mir und dem meines Kindes. Ich wette, es hat eine Veranda mit alten Holzdielen, die erst abgeschliffen werden müssen und einen alten Schaukelstuhl auf dem staubigen Dachboden, vergessen von den Vorbesitzern und trotzdem zu schade, um ihn wegzuschmeissen. Ich wette, das Efeu vor den Panoramafenstern ist noch nicht so lang und dicht, wie ich es in Erinnerung habe, aber das wird es werden, wenn du ihm etwas Zeit gibst.

Ich wette, unsere Tochter wäre eine wahre Schönheit geworden.

Im Bad höre ich das Wasser plätschern, die Badewanne ist schon halb gefüllt. Ich gehe jetzt. Wir gehen jetzt. Es gibt nichts mehr zu schreiben.

Tick, Tack, Tick, Tack, die Zeit steht still.

© Nina Munk (2003)

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