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Schnipsel

„Nach einer langen Zeit, Begegnung“


von Vincent Eugèn Noel


Deswegen warte ich hier auf dich, auf einer Parkbank sitzend, oder ich gehe zwischen Ulmenschatten spazieren, ohne auf den Bürgersteig zu schauen, achte nicht auf Passanten und Autos, übersehe unattraktive, krebsfarbene Beine und Strohhüte von Tagestouristinnen, die auf den Bus warten, der sie zum Brombachsee karrt. Eine bröckelige Steinmauer dient mir als Lehne, das Sonnenlicht rinnt schnapsähnlich über meine Haut, und sobald ich beginne, an deine Wangenknochen, die Art deiner Bewegungen, deinen Mund, die Melodie deiner Stimme zu denken, verwechselt mich ein Hund mit diesem Baumstamm, dem ich mit der wachsenden Zahl meiner Jahre immer ähnlicher werde, einem Ulmenstamm, einem Kastanienstamm, ein Bündel melancholischer Äste mit Fingerzweigen im Herbstwind, aus dessen Hosentaschen winzige Blätter wuchern, die alt genug sind, um mit den Erinnerungen zu verschmelzen, dessen unbekannte Grenzen mitternächtliche Begegnungen und gestohlene Küsse sind.
Deswegen warte ich hier auf dich, während mich ein Altfrauengesicht von einem Balkon herab wie aus einem Ölgemälde heraus inspiziert und viel zu wirklich ist, um ein so verwirrtes Gesicht wie meines auszutauschen; während sie nach ihrem Hund ruft, sende ich dir ein Zigarettenstrahlen mit der Hoffnung, gefunden und geborgen zu werden aus dieser Nachmittagsfinsternis heraus, die mich wie eine geliehene Hose einengt, ich warte fiebrig auf dich, ohne krank zu sein, lasse mich von einem Herbstwind zerzausen, den ich nicht spüre, der Hund wendet sich enttäuscht von mir ab, wie sich alles enttäuscht von mir abwendet, ich warte so fiebrig auf dich, wie nur ein Verliebter zur Gespensterstunde, ein Herbststrauß Gladiolen in der Hand auf seine viel zu schöne Liebste warten kann, die ihn vergessen hat und, die Nase an der Gardine, einen nutzlosen Feierabend an sich vorüber hauchen lässt; deswegen warte ich auf dich, Libelle, bis der Bus seinen Anker am Haltestellenufer fallen lässt, auf der letzten Sitzbank sitzt du, allein, dein Lächeln entdeckt mich, also gehe ich dir entgegen, schüchterner als ein Schuljunge, mit welken Knien, um mit dir die Eulen im Stadtpark zu beobachten, die sich keinen Herzschlag lang um die Spaziergänger scheren und so still sind wie meine Sehnsucht nach dir.

© Vincent Eugèn Noel (Nürnberg, 2007)