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Schnipsel

Bahnhofsstimmung

Bahnhofsstimmung, überall Leute, dicke schwatzende Hausfrauen ohne Allgemeinkenntnisse, die sich plaudernd mit schwammigen Hängebacken, kurzen wabbeligen Armen über den Sonntagsbraten auslassen.

Entnervte Schaffner und Bahnführer, deren Köpfe mit Zeitverschiebungen und Zugrattern gefüllt sind, stehen in ihren schweißnassen Uniformen mit verrutschten Kappen. Warten auf die nächste Dienstleistung, Nickelbrillen, abgekauter Lippenstift, drückende BH’s, unechte Manschetten warten auf Anweisungen.

Ungeduldige Kinder mit laufenden Nasen, offenen Schuhen, mit Grapsch- händchen, ungeschicktes Quasseln ohne Sinn.

Beschämte Mütter, sie versuchen das ohrenbetäubende Geschrei der Kinder zu dämpfen, kramen nach Butterkeksen und Zitronenlimonade, schimpfen, beruhigen und fragen sich, wohin ihre alte Lebensfreude entschwunden ist.

Tränenreiche Abschiede mit Versprechungen, vielleicht leere Versprechungen? Feste Umarmungen, innige Küsse, sanftes 'Haare hinter die Ohren Streichen', zerknuddelte Tempos voll mit Abschiedstränen. Nervöse Blicke zur Bahnhofsuhr, liebende Pärchen mit der Angst, es könnte die letzte gemeinsame Minute sein.

Leicht angetrunkene Geschäftspartner, lachend, mit einem Touch Etikette, ohne Gedanken an die wartende Frau, die kleinen Kinder, die irgendwie nur zur sonst so kaputten Familienstimmung beitragen sollen. Egoistisch bis auf die schwabbelige Fettschicht ihres Bauches, bierglänzende Lippen, die keine Lust mehr verspüren noch verbreiten, Lippen, die keine innigen Küsse mehr zu vergeben haben.

Müll, Dreck, Tränen, Bier, Gelächter, Schweiß, Sonntagsbraten, Keksverpa ckungen, tropfende Limo.

Dealer mit Hast ohne ein schlechtes Gewissen, ohne den Sog ihrer Ware zu verspüren, drehen jeden Pfennig um, fühlen sich beobachtet, mit Grund.

Käufer lechzen nach der Wirkung, die sie in dieser schweren Zeit so nötig haben, erpicht darauf mit Herzklopfen ohne Freuden, ohne Gefühle, sie haben alles gegeben und alles verloren, doch sie merken es nicht einmal.

Ausgemergelte Punks mit den gleichen ausgemergelten Hunden, schwarzen Rändern unter Augen und Fingernägeln, mit der Kälte im Herzen ohne Dach und ohne Liebe.

Notgeile, die einen Partner für’s Bahnhofsklo suchen und finden, Nutten mit geschundenen Leibern, blauen Flecken, unter Drogen, ohne Geld nur mit Zuhälter. Sie haben keine Tränen mehr, wofür auch?

Nur einen Moment, einen bestimmten Zeitraum scheint all dies Elend sich an einem Ort zu treffen, nicht um zu plaudern, noch um sich zu trösten oder zu helfen. Doch man spürt die Last über dem Bahnhofsgebäude, die an einem hängt wie Mühlsteine. Das Leid nimmt Besitz und regiert deine Stimmung, deine Bahnhofsstimmung, eine Stimmung so undefinierbar und doch so leicht zu erfassen. Sie legt sich auf die Haut wie eine Puder-, eine Rußschicht und doch belastend gleich einem minütigen Fluch, einem Fluch ohne Folgen, nur ein Fluch der Belastung, der kurzen Kenntnisnahme und einem nicht lang andauernden Gruseln.

7.8.1999 von Laura


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