Schnipsel

Delirium genitalis

Groteske von Werner Friebel


Ein Uhr nachts war längst vorüber, als Fridolin vom Wirt seiner Stammkneipe endgültig zum Gehen aufgefordert wurde.
Er war, wie oft, der letzte Gast, und das helle, ungemütliche Licht, mit dem der Wirt zur Sperrstunde die letzten Trinker hinauszukomplimentieren pflegte, ließ Fridolin die Aussichtslosigkeit einer weiteren Bestellung erkennen.
Die meisten Stühle lagen schon mit ihren Sitzflächen auf den Tischen und reckten ihre, vom Gewicht bierbäuchiger Männerleiber befreiten Beine in die klebrige Luft.
"Brauchst noch'n Taxi, Becker?", fragte der Wirt in jenem jovialen und gleichzeitig spöttischen Tonfall, der sich seiner Stimme in all den biergezapften Jahren und der daraus entstandenen Überheblichkeit bemächtigt hatte.
Fridolin schüttelte den Kopf und leerte sein Glas. Der Wirt half ihm in die Jacke, in deren Taschen er augenzwinkernd zwei Schnapsfläschchen gleiten ließ und bugsierte seinen Stammgast zur Tür hinaus, um die hinaufgestellten Stühle vor Anrempelungen zu schützen.
Wie ein unerwarteter Schlag machte die kühle Herbstluft Fridolin benommen; er lehnte sich an die Hauswand und hörte das metallische Schnappen der Türriegel hinter sich.
Langsam begann er, in engem Kontakt mit Zäunen und Hausmauern, den Fußweg entlang zu schwanken, immer wieder inne haltend, um einen säuerlichen Rülpser in die Stille der Nacht zu entlassen.

Als er zwei junge Burschen entgegen kommen sah, versuchte Fridolin Becker, seine Füsse möglichst sicher voreinander zu setzen und jenen stattlichen Eindruck zu erwecken, den er sich selbst allmorgendlich vor dem Spiegel zugestand. Doch die Beiden schlenderten, sich leise unterhaltend, an ihm vorüber, ohne ihn anzupöbeln oder auf andere Weise Notiz von ihm zu nehmen.
Fridolin blieb stehen und sah ihnen nach, bis sie in eine Gasse abbogen.
' Hah, diese Wichte!', empörte sich die Restfunktion seiner Synapsenverbindungen, 'Die hätten bloß ihr Maul aufmachen sollen, die Lederjackenbubis. Mit mir nicht!'
Behutsam zog er eines der Fläschchen aus der Tasche und leerte es mit der Andacht und Sorgfalt eines Säuglings.

Plötzlich wurde ihm die Vorstellung, nun gleich neben seinem dürren, nie begehrten Frauenzimmer zu liegen, höchst unbehaglich.
Ja, als er ein Bursche war wie die beiden von eben, ha, was hatte er sich die Nächte um die Ohren geschlagen! Ein Draufgänger war er gewesen, rangepresst ans heisse Leben!

Erinnerungsfetzen, von der Trunkenheit sorgfältig gesiebt und angenehm eingefärbt, baumelten zwischen Fridolins Auge und Brillenglas.
Nein, heut war keine Nacht, nach Hause zu gehen. Zu lange hatte er schon kein warmes, weiches Fleisch mehr unter seinen fordernden Händen sich winden gespürt, zu lange sich nicht mehr gewetzt und bewiesen.
Dabei hatten sie ihn all die Jahre angelächelt, die Frauen, die zusammen mit ihren Männern in seinen Laden kamen, um die Vorführmodelle Probe zu fahren. Verbindlich, ja nur verbindlich war er gewesen, wenn er die Vorzüge der Motoren und der Sonderausstattungen erklärt hatte. Keine hatte er je angerührt, nur gerochen an manch einem Sitz nach einer Probefahrt.

Langsam, immer wieder stolpernd, schritt Fridolin die Häuserfront der Altstadt entlang.
Sein Blick taumelte an den Fassaden empor, die dunklen Fensterhöhlen entlang. Da schliefen sie, junge Mädchen und wolllüstige Frauen, nicht ahnend, dass er, Fridolin Becker, mit quälendem Drängen unter ihnen stand.
Bald wurde ihm schwindlig vom Gewirr seiner Phantasien und dem Kopfanheben, so dass er sich an eine Hauswand lehnte, um behutsam das zweite Fläschchen zu trinken.
Er spürte, wie sich sein Magen verkrampfte, schloß kurz die Augen und ließ den süß-sauren Kloß aus Rotz und Speichel, der sich in seinem Gaumen angesammelt hatte, in ein paar aufeinander folgenden Rinnsalen in seinen Jackenkragen gleiten.

Da stand sie plötzlich vor ihm. Fast unbekleidet, lasziv lächelnd mit ihren breiten, vollen Lippen, die großen dunklen Augen ohne mit der Wimper zu zucken in seine verhakt.
Der Autohändler Fridolin Becker war am Ziel seiner Träume.

Am Morgen wurde er unsanft geweckt.
Einer der beiden Straßenkehrer, die feixend um ihn standen, kämmte ihm mit dem Besen die zerzausten Haare. Als er langsam zu sich kam, erschrak Fridolin über die Ursache ihres Gelächters. Seine Hose und die Unterhose hingen ihm unter den Knien.
Mit fahrigen Bewegungen versuchte Fridolin, sich einigermaßen in Ordnung zu bringen, während er, noch immer schwankend, davoneilte.
Die beiden Männer hinter ihm setzten lachend und kopfschüttelnd wieder ihre Arbeit vor der Boutique für Damenunterwäsche fort.


© wf/ Anthologie "Gedanken im Netz" (2001)

- auch im ebook "Von Küssen & Musen"

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