Der Katzenliebhaber Kurt Tucholsky beschwerte sich einmal, die Katze sei das einzige Tier, das dem Menschen eingeredet hat, er müsse es erhalten, es brauche aber nichts dafür zu tun. Dabei wusste er natürlich sehr wohl, was er an ihr hatte, denn wie vielen anderen Literaten und Künstlern schnurrte die Katze auch ihm als Muse ins Handwerk, gern trat er auch mal als Theobald Tiger oder Peter Panter unter ihrem Namen auf und seinem Kater Mingo schrieb "Tucho" gelegentlich launige Briefe, etwa über Axel Eggebrechts damals gerade erschienenes Buch "Katzen".
Ihre beneidenswerte gesellschaftliche Stellung hat sich die Katze, wie ein Blick in die Kulturgeschichte der Felis silvestris catus zeigt, aber erstmal hart erarbeitet, indem sie die Menschheit jahrtausendelang als Schädlingsbekämpfer vor unermesslichem wirtschaftlichen Schaden bewahrte. Und seit der kultischen Verehrung der Katzengöttin Bastet, der Gemahlin des ägyptischen Sonnengottes Re, schöpft jede Katze dieser Welt ihr gelassenes Selbstbewusstsein aus jener göttlichen Genealogie, was sie nicht selten mit der schläfrig blinzelnden, stillen Verachtung einer anarchistischen Aristokratin für das armselig Menschliche ausdrückt.
Mit diesem elitären Selbstverständnis geht auch der Berliner Hauskater Paul ans Werk, als er sich im Februar 2010 ein eigenes Profil auf Facebook zulegt, wobei er von Anfang an keinen Zweifel daran lässt, dass er, der die Katzen-Weltliteratur kennt wie kaum einer, damit die legitime Nachfolge des legendären Kater Murr antritt, dessen literarisch-philosophisches Gesamtwerk seinerzeit von einem gewissen E.T.A. Hoffmann herausgegeben wurde. Und um sich von der gemeinen Usermasse auf Facebook gleich mal abzugrenzen, stellt Paul nicht nur seine Lieblings-Katzenzitate von Petrarca und Mark Twain in sein Persönlichkeitsprofil, sondern als Lieblingsmotto und damit als Hinweis auf seine über Allem erhabene Weltbetrachtung auch eine Strophe aus den überlieferten Gesängen des Katers Hiddigeigei: "Menschentum ist ein Verkehrtes / Menschentum ist Ach und Krach; / im Bewusstsein seines Wertes / sitzt der Kater auf dem Dach."
Flott dreht sich von nun an das tägliche Posting-Karussel, mal übers Fressen und Faulenzen, mal über Katzenkultur und Lebensphilosophie, wobei sich Paul seinem geistigen Ziehvater Murr als durchaus ebenbürtig erweist: mit Seitenhieben auf Kulturbetrieb, Politik und die bürgerliche Menschen-Gesellschaft frozzelt er über Gott und die Welt, wobei er auch gerne Zitate alter Meister in popliterarischen Höhenflügen weiterspinnt, wenn ihm etwa bei einem seiner "Nachtgedanken am Fensterbrett" zu Arthur Schopenhauers "Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere" spontan einfällt, "dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei, ist die Concorde unter den Hirngespinsten." Da sich seine Facebookfreunde bei solchen Postings aber nicht immer sicher sind, ob Paul gerade denk-blödelt oder philo-tiefschürft, kommt auch schon mal eine vorsichtige Nachfrage wie: "Liest du gerade Heidegger?" – "Nein, Woody Allen…".
Ob derartig geistreicher Kalauer geht's bald aufwärts mit Pauls Freundesanzahl, nach zwei Monaten feiert er schon den 500sten, darunter auch Detlef Bluhm, Pauls Untermieter und Dosenöffner, von dem noch zu reden sein wird. Als dann über Paul schließlich das Fernsehporträt "Der erste Kater auf Facebook!" gezeigt wird, scharen sich auch mehr und mehr Freunde aus Felidenkreisen um Paul, vom obersten Katzen-Gourmet Garfield kommt gar eine Autogrammanfrage aus Amerika.
Als angehender Star der zeitgenössichen Cat-Lit erweitert Paul nun sein Spiel in der medialen Wertschöpfungskette und legt sich ergänzend zum Facebookprofil einen Blog mit Beiträgen zur Kulturgeschichte der Katze sowie einen Twitter-Account zu, auch, um seine immer vielfältigeren kulturellen Aktivitäten optimal zu kommunizieren: etwa die von ihm organisierte Katzen-Krimi-Nacht in Berlin nebst Vergabe des Deutschen Katzen-Krimi-Preises durch ihn höchstpersönlich oder seine Ausschreibung zum Fotowettbewerb "Katzen machen was mit Büchern".
Da in der Selbstbespiegelungs-Halbwelt von Facebook ohnehin nichts peinlich sein kann und die Qualitätsbescheinigung für Postings ausschließlich über den "gefällt-mir"-Button ausgestellt wird, wedelt Paul dabei gern wie seinerzeit Murr selig mit seiner literarischen Kultiviertheit; ein Distinktionsgewinn, der sich bei der Social-Web-Kommunikation vorzugsweise durch geschicktes name-dropping erzielen lässt, und so stolpern Namen und Zitate von Charles Baudelaire, Peter Huchel, Charles Bukowski, Raymond Chandler und etlichen anderen wie in einer loriotesken Persiflage der bürgerlichen Bildungshuberei durcheinander, von ebenso beifälligen wie sinnfreien Kommentaren der Freunde goutiert.
Nicht immer jedoch verlaufen Pauls Dialoge im facebooktypischen harmonischem Ausstausch von digitalen Streicheleinheiten; so muss er etwa sein unbedachtes "gefällt-mir" auf der Fanseite des Papstes ("Pope2You") wieder zurücknehmen, da einige seiner Felidenfreunde ansonsten mit Kündigung ihrer Freundschaft drohten - Katzen, vor allem schwarze, haben seit ihren negativ besetzten Nebenrollen während der Hexenverfolgungen ein eher gespanntes Verhältnis zur Kirche.
Pauls zunehmende Popularität bleibt denn auch den Agenten des deutschen Buchverlagswesens nicht verborgen und bald klopft Artemis & Winkler bei ihm an mit der Idee, eine Auswahl seiner Facebook-Konversation nebst zugehörigen Fotos zu veröffentlichen. Hier kommt nun der schon erwähnte Detlef Bluhm wieder ins Spiel, der von Paul kurzerhand zum Privatsekretär und Herausgeber ernannt wird, nicht nur, um ihn zum Dank fürs Fressnapfbefüllen an seinem literarischen Ruhm teilhaben zu lassen, sondern auch aus ganz pragmatischen vertriebstechnischen Erwägungen, da dieser Herr Bluhm in seiner analogen Existenz einer der Geschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels ist und sich nebenbei als Autor mehrerer Katzenbücher schon einen veritablen Namen als Katzenkulturkenner gemacht hat.
So kam es also, wie Paul bereits auf seinem Blog im selbstverfassten Klappentext angekündigt hat, zu diesem "Geschenkbuch für alle Katzenliebhaber, gleichzeitig ein Buch für alle, die sich ein Leben ohne digitale Netzwerke nicht mehr vorstellen können."
Und weil das Projekt vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung des Buchmarkts einen antizyklischen Weg beschreitet, indem es aus einer digitalen Kommunikation ein analoges Produkt macht, wird Paul als Hoffnungsträger auf die Leipziger Buchmesse 2011 eingeladen, wo er das Erscheinen seines Werks zwar noch erleben, aber nicht überleben wird: denn mittendrin, am 18. März 2011, verlassen den doch schon 18-jährigen auf diesem "Jahrmarkt der Eitelkeiten" die Kräfte und mit einem letzten miau-mioh beendet er sein analoges Daseins – für seine aktuell 4547 Facebook-Freunde verfasst er allerdings immer noch fast täglich schnurrige Statusmeldungen aus dem virtuellen Katzenhimmel.
Detlef Bluhm: Kater Paul. Das Facebook-Tagebuch.
Artemis & Winkler Verlag, Mannheim 2011.
127 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783538073234
© Werner Friebel & literaturkritik.de 2011