Viele gute Gedichte zu kennen, solche sogar
mit editorischem Enthusiasmus und literarischer Kompetenz ans Licht
der Öffentlichkeit zu heben, kann für einen Lyriker
mitunter auch hilfreich sein, um selber Brauchbares zustande zu
bringen. Immerhin hat sich Joachim Sartorius schon als Herausgeber
der deutschen Werkausgaben von Malcolm Lowry und William C.
Williams sowie mehrerer Poesie-Anthologien verdient gemacht und ist
Mitglied der "Deutschen Akademie für Spache und
Dichtung". Gelernt hat Sartorius die Rechts- und
Politikwissenschaften, war im deutschen diplomatischen Dienst,
persönlicher Referent von Staatsministerin Hildegard
Hamm-Brücher, Mitglied im Planungsstab des Auswärtigen
Amtes, Generalsekretär des Goethe-Instituts München und
ab 2001 Intendant der Berliner Festspiele - um nur einige seiner
"Jobs" zu nennen. Und da erstaunt es doch, dass dieser
vielseitige Kulturarbeiter immer wieder die Muße zu einem
Stelldichein mit der eigenen Muse findet, wie seine bisherigen
fünf eigenen Gedichtbände belegen.
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Bei so einem
Vielgereisten erscheint es naheliegend, dass sich auch im
Selbstgedichteten die Eindrücke von Orten, Landschaften,
inneren und betrachteten Bildern widerspiegeln - der Grundstoff
für seine "Hochkonzentrate" im neuen Gedichtband
"Hôtel des Étrangers". Zunächst sieht ihn
der Leser "AM ARBEITSPLATZ", an dem er "Im Kampf
zwischen Vernunft und Gefühl" "DIE NACHT VOR DEM
PC" zwischen einer römischen Dame aus Ton, Heften,
Gebetsketten, Büchern, einer glasierten Kachel aus Samarkand
und vielen kleinen dunklen Spiegeln verbringt und tagsüber ein
"EINSAMES LEBEN" mit Blick auf die "Schwalben
über dem Weinlaub / und kleine weiße Wolken schnell
ziehend" führt, bereit "den Lärm / der Welt mit
Worten willkommen zu heißen." Das klingt nach
buddhistischer Achtsamkeit, nach meditativer Einkehr mit einem
melancholischen Grundton, der "BEIM SCHREIBEN" am Ende
dieses kurzen ersten Teils mit ironischer Selbstreflexion
kokettiert: "Das Gedicht versteht mich nicht." Wie schon
in früheren Arbeiten lässt sich Sartorius auch diesmal
von der Malerei inspirieren und versucht in "EINIGE
BILDGEDICHTE" etliche real existierende, aber auch von ihm
selbst imaginierte Bilder zu interpretieren. Darunter auch ein
Zyklus über Werke des flämischen Renaissance-Malers
Joachim Patinir, zu dem Sartorius durch seine Ausstellungsbesuche
im Madrider "Prado" inspiriert wurde. Dabei glaubt er
zwar in dessen Landschaftsbildern zu erkennen, "daß aber
die richtige, wirkliche Welt / hinter dem Horizont liegt / und dort
ungeduldig auf uns wartet", kann aber den Nichtkennern der
Gemälde (und das dürften die meisten sein) kaum eine
über das Deskriptive hinausgehende Vorstellung vermitteln, die
seine Sinneseindrücke von den Bildern und deren jeweilige
ikonografischen Deutungszusammenhänge nachvollziehbar machen,
zumal die Bilder leider nicht visuell reproduziert sind. Für
den kunsthistorischen Laien dürfte manches unerschließbar
sein, wenn etwa Sartorius in der Bildbeschreibung
"LIEBESPAAR" von Hashimoto Chikanobu mit der Metapher
"Ihre Scheide, der Ursprung der Welt" auf das
berühmte Gemälde des bei ihm sonst nirgends
referenzierten Malers Gustave Courbet verweist, der mit der
Darstellung einer nackten Vulva in seinem Original "Der
Ursprung der Welt" eine Verschiebung der Tabugrenzen in der
Kunst bewirkte. Dieser intertextuelle Bezug auf die
kulturgeschichtliche Verwandschaft der Bilder (beide entstanden in
den 1860er Jahren) ist wohl nur den Kennern erotischer Malerei als
feines Assoziations-Gimmick vorbehalten.
Die folgenden
"STÄDTE DES OSTENS" werden, weil kaum einem
Geografielehrer bekannt, in den Anmerkungen zum Teil
erläutert; doch auch dadurch erreichen die mit deren
Beschreibungen verbundenen Botschaften eines Weitgereisten zu
selten das innere Auge des zeitgenössischen Lesers. Immerhin
konnotiert Sartorius sein Erinnern an die Orte gelegentlich mit
poetisch ,amtlichen' Sinnfälligkeiten wie in
"KERKENNAH": "Oft macht einem ein Traum Angst / vor
den Dingen, die man tun könnte." Wunderbar, hätte er
doch bloß nicht vorher schon im gleichen Gedicht beim
Bemühen um Originalität gegärtnert: "Das Herz
raschelt frisch wie Basilikum." Auch bei manch anderem
Schönsprech in Sartorius' Poesie-Ästhetik der
mäandernden Assoziationen in meist freier Rhythmik lauert das
Pathos oft in einer "Überdosis Eleganz", wie er sie
etwa im symbolhaft titelstiftenden "Hôtel des
Étrangers", einem Exilanten- und Künstlerrefugium
der 1930er-Jahre in "GOLDEN, ISTANBUL", erfuhr - in jener
Stadt, von der Sartorius zu berichten weiß: "Eine
Wasserstadt. / Wie geliebt wird, erfahren wir an ihr."
Im
Schlussabschnitt "KLEINER TOTENTANZ" verbindet Sartorius
die Meta-Themen "Liebe" und "Tod" mit
Vergänglichkeitsmotiven und existenziellem Ernst und mahnt am
Ende larmoyanzfrei: "bevor du aus der Welt gehst / steh auf
verlasse noch einmal das Bett / [...] / dann leg dich wieder hin /
dein Terrain wird bleiben".
Ein feiner Draht ins
Transzendente, Einfallsreichtum und kontemplative Reflexion
verleihen einigen Texten in diesem bei "Kiepenheuer &
Witsch" erschienenen Gedichtband einen durchaus
eigenständigen Stil und ästhetischen Reiz, doch zu selten
gelingt es Sartorius, seine Intentionalität in mehr als
Ahnbares zu verdichten. Für diesen gepflegt, aber oft
belanglos plätschernden Tonfall mag beispielhaft die erste und
letzte Strophe aus "TOTE FRAUEN LIEBEN" stehen:
"Tote Frauen sind fremde Frauen, / die wir nicht mehr
berühren können, / Haben wir sie je berührt? Das
Auge perlt. / Schon immer hat der Schimmer dieser Frauen /
Berührungen unmöglich gemacht. Tränen / verzittern
nun die Bilder der Erinnerung. / Die Frauen liegen kalt mit dem
Gesicht im Laub. // [...] // Tote Frauen sind grausam. In diesem
Haus / sind einzig anwesend die Abwesenden, / und die Erinnerung,
das sind die Geliebten, / welche unerreichbar bleiben, die wir
hatten / und nicht mehr haben, und jene, die wir niemals / hatten.
Die uns ins Licht tauchten. Die sagten: / Du wirst nichts erleben
und nur Abschied nehmen."
(Anmerkung: "Basilikum" (Griechisch: königliche Heilpflanze) gilt in Indien als Heiligkeitssymbol des Gottes Vishnu, bei den Römern war er die Pflanze des Hasses. Im Mittelalter und heute noch in Teilen Osteuropas Symbol für Zuneigung und Fruchtbarkeit.)
Joachim Sartorius: Hôtel des Étrangers.
Gedichte.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008.
80 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783462040326
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© Werner Friebel
2009 & "literaturkritik.de"
(Diese Rezension als PDF)
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