Schnipsel

Silvester im kleinen Kreis

(Auszug aus "Toreros sind so")

von Michael Eichhammer

Heute ist nicht mein Tag. Genau genommen ist das auch nicht mein Jahr. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, das ist nicht mein Leben. Der heutige Tag aber ist besonders bedeutungsschwanger. Silvester - schon der Name klingt wie eine Krankheit. Ich werde das Jahresende im kleinen Kreis feiern. Im sehr kleinen Kreis sogar. Allein zuhause. Ich habe sämtliche Einladungen abgelehnt. Ich will weder mit Richie „Frauen reißen“, wie er sich ausdrückt, noch mit Ernst in einem Computerspieluniversum dem Ernst des Lebens entfliehen. Auch Bleigießen mit meinen Eltern oder Fernsehen mit Frau Podewils, der alten Dame aus dem Erdgeschoss, erscheinen mir wenig reizvoll. Die schlimmste Vorstellung aber ist, allein unter Pärchen zu sitzen, die sich realitätsfremde Zukunftspläne ins Ohr säuseln. Silvester wird diesmal ohne mich stattfinden.

Ist heute Pärchentreff im Supermarkt oder wo kommen plötzlich all diese vor Glückshormonüberproduktion dämlich grinsenden Leute her, die händchenhaltend durch die Regalreihen lustwandeln, als wären sie auf der Rialto-Brücke in Venedig? Die Romantik der Tiefkühlkost-Kulisse kann wohl nur nachvollziehen, wem gerade Endorphine die Sinne vernebeln. Wartet nur ab, bald ist der Spuk vorbei! In ein paar Wochen werdet ihr merken, dass ihr gerade im MiniMal seid und nicht in den Flitterwochen!, rufe ich innerlich. Das ist bekanntermaßen eine wissenschaftlich bewiesene Tatsache: Der hormonbedingte Wahn, der frisch Verliebte in Grenzdebile verwandelt, vergeht nach spätestens drei Monaten.
Andererseits: Wenn ich so darüber nachdenke, war ich nach einem Jahr noch genau so verrückt nach Heike wie am ersten Tag...
Kauft euch eure Familienpackung Taschentücher und verschwindet, das ist hier kein Swinger-Club!, würde ich am liebsten einem Paar an den Kopf werfen, das sich vor der Wursttheke schamlos in aller Öffentlichkeit küsst. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass es zur Firmenpolitik von MiniMal gehört, Singles auszugrenzen. Warum sonst spielt man hier als Hintergrundmusik ausschließlich Liebeslieder? Follow you, follow me, trällert Phil Collins gerade. Follow me to the Ausgang!, sage ich zu mir selbst und schiebe völlig entnervt den Einkaufswagen in Richtung Kasse. Ich nehme mir fest vor: Wenn mir jetzt zwei Turteltäubchen vor die Räder laufen, weil sie vor lauter chemischer Reaktion im Großhirn nicht nach links und rechts schauen, kann ich leider nicht mehr bremsen.
„Viel Spaß bei deiner Party!“, sagt die rothaarige Azubi mit den Sommersprossen an der Kasse und lächelt mich an, während sie eine Flasche Glenkinchie über den Scanner zieht.
Welche Party?, denke ich. Dann wird mir klar, was sie meint. Sie kann ja nicht wissen, dass die Unmengen an Spirituosen auf dem Laufband nicht der Verköstigung einer größeren Gesellschaft dienen, sondern einem wissenschaftlichen Experiment: Ich werde heute im Selbstversuch probieren, genau die Gehirnzellen mit Alkohol abzutöten, in denen Informationen über Heike gespeichert sind. Oder sollte ich die rothaarige Kassenkraft...
Nein! Ich bin zwar Single, aber nicht so Single. Can´t stop now, I´ve travelled so far to change this lonely life, singt mir Lou Gramm von Foreigner spöttisch hinterher, als ich den Laden verlasse. Wenn die MiniMal-Geschäftsleitung keine Singles in ihren Filialen haben will, soll sie am Eingang ein „Wir müssen leider draußen bleiben“-Schild aufstellen, auf dem eine einzelne Figur mit heruntergezogenen Mundwinkeln rot durchgestrichen ist! Ich nehme mir fest vor: Wenn ich beim nächsten Einkauf wieder mit Anti-Single-Musik gefoltert werde, trinke ich einfach das Regal mit dem schottischen Whiskey leer und bewerfe die anwesenden Pärchen mit Taschentusch-Familienpackungen.

Zurück zuhause höre ich Musik, die meiner Stimmung entspricht: Verdis Requiem. Ich bin jetzt ganz allein auf der Welt. Das Telefon habe ich ausgesteckt, die Wohnungstürklingel auf Stumm gestellt. Schon nachmittags beginnen die ersten Idioten, ihre Knallkörper zu entzünden. Ich schließe sämtliche Vorhänge und drehe die Musik lauter. Nach dem zweiten Durchlauf lege ich der Abwechslung halber eine neue CD ein: Mozarts Requiem.

Ich spreche Heike aufs Band, dass ich mich nur wegen ihrer CD noch mal melde. Und dass dies mein letzter Anruf ist. Wenn mein Plan aufgeht, ist das nicht mal gelogen: Heute Abend will ich schließlich sämtliche Erinnerungen an Heike in Alkohol ertränken. Ich starte meine Versuchsreihe über kontrollierten Gehirnzellenabbau, indem ich die erste Flasche Wein öffne. „Für die Wissenschaft!“, proste ich mir zu.

Forschungsbericht, Teil 1, 22.30 Uhr
Bin schon ganz schön hacke, doch noch weit entfernt von dem großen Durchbruch in der Gehirnzellenforschung. Obwohl ich so flächendeckend wie möglich arbeite und von Glühwein über Whiskey, Bier und Rum bis zu Absinth alles ausprobiere, was meinem Unterfangen dienlich sein könnte, scheinen die mit Erinnerungen an Heike verseuchten Gehirnzellen besonders alkoholresistent zu sein. Noch immer taucht sie alle paar Sekunden vor meinem geistigen Auge auf. Eine Wunderkerze in der Hand, die mit ihren Augen um die Wette leuchtet, gibt sie mir einen langen Kuss und sagt: „Neues Jahr, neues Glück! Lass es uns noch mal versuchen!“
Ich bin noch nüchtern genug, um zu wissen, dass dies niemals passieren wird. Missmutig zerreise ich ihre Postkarte mit dem Spruch „Nehmen Sie die Menschen so wie sie sind. Es gibt keine anderen“ in so kleine Teile, dass ich sie mir danach als Konfetti über den Kopf werfen kann. Es herrscht sehr ausgelassene Stimmung auf meiner Silvesterparty im sehr kleinen Kreis!

Forschungsbericht, Teil 2, 23.45 Uhr
Immerhin kann ich einen kleinen Zwischenstand meiner Forschung für die Nachwelt festhalten: Alkohol, in hoher Dosis verabreicht, schärft den Gehörsinn. Kann die Nuancen der Musik viel besser wahrnehmen. Kommt mir vor, als würde ich das Zusammenspiel des Orchesters als Ganzes besser begreifen, gleichzeitig aber auch jedes Instrument für sich kristallklar heraushören. Hat zugegebenermaßen wenig bis gar nichts mit meinem Vorhaben zu tun. Sehe dieses Ergebnis deshalb als ein Nebenprodukt meiner Forschung an, so wie Teflonpfannen ein Nebenprodukt der Raumfahrt sind.

Forschungsbericht, Teil 3, 0 Uhr
Scheint, als kehrt sich der gehörsinnschärfende Effekt des Alkoholkonsums ab einer gewissen Überdosierung ins Gegenteil: Die Raketenangriffe der Feuerwerksarmee und das Gejohle der unverbesserlichen Optimisten, die denken, ein neues Jahr wäre ein Grund zum Feiern, höre ich wie durch Watte. Heike dagegen ist immer noch überall in meinem Kopf. Heike Surround sozusagen. Aber immerhin müssen sich meine Gedanken mittlerweile durch eine zähe Masse an die Oberfläche des Bewusstseins kämpfen. Meine Augen spielen mir einen Streich. Sehe doppelt. Als wäre die Wohnung nicht schon nüchtern betrachtet zu groß für einen allein!

Forschungsbericht, Teil 4, 0 Uhr irgendwas
Wundere mich, warum mir unvermittelt folgender Gedanke durch den Kopf schießt: Auf meiner Beerdigung soll ein mindestens zwölfköpfiger Chor „The Warmth Of The Sun“ von den Beach Boys singen. Zu meiner eigenen Überraschung schreie ich danach so laut, dass ich selbst vor Schreck zusammenzucke: „Und zwar ein reiner Männerchor!“

Forschungsbericht, Teil 5, keine Ahnung wie spät es ist
Sehe müde meinem Handy zu, wie es mit den leeren Flaschen Walzer tanzt. Höre eine Stimme wie durch Watte. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Meine eigene Stimme vielleicht? Versuche, zuzuhören, was ich sage, aber das ist zu schwierig, weil das Wohnzimmer mittlerweile überflutet ist und ich wie in einem Aquarium aus Alkohol schwimme. Plötzlich werde ich von einem Strudel in die Tiefe gerissen. Lecker, das Meer schmeckt nach Bier! Der Strudel spült mich zu meinem Medizinschrank. Ich sehe bunte Kügelchen. Ich probiere eine. Mmh, die schmecken ja auch nach Bier! Unendliche Dunkelheit saugt mich ein wie ein schwarzes Loch.

Ich wache auf mit Rückenschmerzen. Kein Wunder, ich liege auf dem harten PVC-Belag im Flur. Neben meinen Schuhen liegt eine Schere. Die Schnürsenkel sind durchgeschnitten. Ich habe offensichtlich alternative Techniken zum Ausziehen der Schuhe ausprobiert. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte jemand darin ein Feuerwerk angezündet. Jetzt erst bemerke ich die vielen Tablettenschachteln, die um mich herum liegen. Langsam dämmert mir, was ich getan habe. In Panik haste ich zum Telefon, wobei ich auf dem Weg im Halbdelirium stolpere und mir den Kopf am Tisch stoße.

„Ist da die Telefonseelsorge?“
„Ja“, sagt eine sanfte, ältere Frauenstimme.
„Ich habe versucht mich umzubringen.“ Ich meine nicht den Unfall mit der Tischkante.
„Was haben Sie genau getan?“ Die Dame klingt besorgt.
„Pillen geschluckt.“
„Was für Tabletten haben Sie eingenommen? Und wie viele?“
„Weiß ich nicht“, gebe ich zu. „Ich war betrunken.“
„Wie fühlen Sie sich?“
„Immer noch betrunken.“ Mit einem Blick auf den Tisch füge ich hinzu: „Und ich habe Kopfschmerzen.“ „Bitte, konzentrieren Sie sich!“, fordert die Dame mit eindringlicher Stimme. „Reißen Sie sich kurz zusammen und schauen Sie nach, was Sie eingenommen haben!“
Ich wanke zurück in den Flur, schaue benebelt auf den Boden und taste nach den Schachteln. „Hallo?“, fragt die Telefonseelsorgerin nach einer Weile ungeduldig.
„Drei... Aspirin”, murmele ich. Meine Kopfschmerzen werden immer schlimmer.
„Was?”
„Ich habe drei Aspirin geschluckt“, wiederhole ich.
„Ist das alles?“ Fast klingt sie enttäuscht.
„Und vier Hustenbonbons“, ergänze ich. „Aber die liegen hier am Boden. Waren wohl nicht mein Geschmack.“
„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“, fragt die Dame gereizt.
„Wieso?“
„Man stirbt nicht von drei Aspirin“, klärt sie mich auf.
„Ihr Tonfall missfällt mir“, sage ich.
„Wie bitte?“
„Ich dachte, Sie sollen die Leute vom Selbstmord abhalten.“
„Ja... und?“, fragt die Dame enerviert.
„Sie klingen so... vorwurfsvoll.“
Sie schnauft heftig in den Hörer: „Ich glaube immer noch, Sie erlauben sich einen Scherz mit mir.“
„Nein“, versichere ich. „Ich meine das todernst! Oder habe ich das Konzept hier falsch verstanden? Ist es Ihre Aufgabe, Tipps für den perfekten Selbstmord zu geben?“ Ich rede mich in Rage. „Dann tut es mir leid, dass ich so unprofessionell bin, aber das war mein erster Versuch!“
„Wissen Sie was?“, herrscht mich die Dame an, „Ich werde jetzt auflegen... Außer, sie haben ein ernsthaftes Problem.“
Ich schildere mein Schicksal. Den Teil mit meinem verlorenen Job halte ich kurz, denn ich weiß, dass sich das ändern lässt. Dafür gerät die Beschreibung meiner Gefühle für Heike umso ausführlicher. Irgendwann höre ich die ältere Dame am anderen Ende der Leitung schluchzen.
„Geht es ihnen gut?“, erkundige ich mich.
„Ja“, versichert sie. „Es ist nur... Das ist die schönste Liebesgeschichte, die ich je gehört habe.“
„Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen“, rate ich meiner unbekannten Zuhörerin. „Das Leben muss weitergehen.“
„Aber...“
„Ich muss jetzt aufhören“, sage ich, weil ich dringend einen Schluck Wasser brauche. „Passen Sie gut auf sich auf.“
Mir geht es nach dem Gespräch irgendwie besser und ich hoffe für die nette Dame, dass auch sie sich kein Leid tut.

Ich sitze gerade in der Toilette und lese die Witzeseite im For Men Magazine, als es an der Tür klopft. Das Klopfen wird lauter, begleitet von energischen „Hallo“-Rufen. Was für ein Irrer ist das? Die Zeugen Jehovas werden auch immer aufdringlicher! Oder will sich der pensionierte Kettenraucher Schneider aus dem vierten Stock wieder über die laute Musik beschweren? Da fällt mir auf: Ich habe gar keine Musik an.
Mit einem lauten Krachen zersplittert meine Wohnungstür. Als ich mit heruntergelassener Hose aus der Toilette schiele, sehe ich drei Feuerwehrmänner und zwei Polizisten in meine Wohnung stürmen, gefolgt von Richie und Ernst.
„Martin!“, ruft Richie, sprintet auf mich zu und umarmt mich, als hätte ich gerade seine Steilpassvorlage in das WM-Siegtor für Deutschland verwandelt.
„Was soll das alles?“, frage ich mit Blick auf meine zerstörte Tür und die Beamten. Die versteckte Kamera suche ich vergeblich. Darüber bin ich auf froh, denn erst jetzt bemerke ich, dass ich meine Hose noch immer nicht hochgezogen habe. Ich erinnere mich dunkel, dass ich die Klingel ausgeschaltet habe.
„Deine Nachricht auf meiner Mailbox hat uns solche Angst gemacht“, erklärt Ernst.
„Welche Nachricht?“
Ernst hält mir zur Antwort sein Handy ans Ohr. Ich höre mich lallen: „Ohne Haie... äh Heike issalles sinnlos. Nenn mir ein´ Grund, sichnich umsubringen, wenn ein´ die große Liebe verlassn hat... Ernst? Hassumich gehört, Ernst? Nenn mir ein´ Grund!... Hallo?... Aha, wussichsdoch! S´gibt kein´ Grund!... Machs gut, mein Freund!“
Ich kann mich nicht erinnern, das gesagt zu haben. Ich kann mich nicht einmal erinnern, Ernst angerufen zu haben.
„Wir hatten schon befürchtet, wir kämen zu spät“, sagt Richie.
„In gewisser Weise “, beginne ich und schaue wehmütig auf das Sperrholz, welches mal meine Wohnungstür war, „tut ihr das auch.“

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© Michael Eichhammer (München, 2007)
aus "Toreros sind so"
Piper Verlag
ISBN 3-492262-17-1, 224 S.

Buchbestellung für € 7,95

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