Heute ist nicht mein Tag. Genau genommen ist das auch nicht mein
Jahr. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, das ist nicht mein
Leben. Der heutige Tag aber ist besonders bedeutungsschwanger.
Silvester - schon der Name klingt wie eine Krankheit. Ich werde das
Jahresende im kleinen Kreis feiern. Im sehr kleinen Kreis sogar.
Allein zuhause. Ich habe sämtliche Einladungen abgelehnt. Ich
will weder mit Richie „Frauen reißen“, wie er sich
ausdrückt, noch mit Ernst in einem Computerspieluniversum dem
Ernst des Lebens entfliehen. Auch Bleigießen mit meinen Eltern
oder Fernsehen mit Frau Podewils, der alten Dame aus dem
Erdgeschoss, erscheinen mir wenig reizvoll. Die schlimmste
Vorstellung aber ist, allein unter Pärchen zu sitzen, die sich
realitätsfremde Zukunftspläne ins Ohr säuseln.
Silvester wird diesmal ohne mich stattfinden.
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Ist heute Pärchentreff im Supermarkt oder wo kommen
plötzlich all diese vor Glückshormonüberproduktion
dämlich grinsenden Leute her, die händchenhaltend durch
die Regalreihen lustwandeln, als wären sie auf der
Rialto-Brücke in Venedig? Die Romantik der
Tiefkühlkost-Kulisse kann wohl nur nachvollziehen, wem gerade
Endorphine die Sinne vernebeln. Wartet nur ab, bald ist der Spuk
vorbei! In ein paar Wochen werdet ihr merken, dass ihr gerade im
MiniMal seid und nicht in den Flitterwochen!, rufe ich innerlich.
Das ist bekanntermaßen eine wissenschaftlich bewiesene
Tatsache: Der hormonbedingte Wahn, der frisch Verliebte in
Grenzdebile verwandelt, vergeht nach spätestens drei Monaten.
Andererseits: Wenn ich so darüber nachdenke, war ich nach
einem Jahr noch genau so verrückt nach Heike wie am ersten
Tag...
Kauft euch eure Familienpackung Taschentücher und
verschwindet, das ist hier kein Swinger-Club!, würde ich am
liebsten einem Paar an den Kopf werfen, das sich vor der Wursttheke
schamlos in aller Öffentlichkeit küsst. Mittlerweile bin
ich mir sicher, dass es zur Firmenpolitik von MiniMal gehört,
Singles auszugrenzen. Warum sonst spielt man hier als
Hintergrundmusik ausschließlich Liebeslieder? Follow you,
follow me, trällert Phil Collins gerade. Follow me to the
Ausgang!, sage ich zu mir selbst und schiebe völlig entnervt
den Einkaufswagen in Richtung Kasse. Ich nehme mir fest vor: Wenn
mir jetzt zwei Turteltäubchen vor die Räder laufen, weil
sie vor lauter chemischer Reaktion im Großhirn nicht nach
links und rechts schauen, kann ich leider nicht mehr bremsen.
„Viel Spaß bei deiner Party!“, sagt die rothaarige
Azubi mit den Sommersprossen an der Kasse und lächelt mich an,
während sie eine Flasche Glenkinchie über den Scanner
zieht.
Welche Party?, denke ich. Dann wird mir klar, was sie meint. Sie
kann ja nicht wissen, dass die Unmengen an Spirituosen auf dem
Laufband nicht der Verköstigung einer größeren
Gesellschaft dienen, sondern einem wissenschaftlichen Experiment:
Ich werde heute im Selbstversuch probieren, genau die Gehirnzellen
mit Alkohol abzutöten, in denen Informationen über Heike
gespeichert sind. Oder sollte ich die rothaarige Kassenkraft...
Nein! Ich bin zwar Single, aber nicht so Single. Can´t stop
now, I´ve travelled so far to change this lonely life, singt
mir Lou Gramm von Foreigner spöttisch hinterher, als ich den
Laden verlasse. Wenn die MiniMal-Geschäftsleitung keine
Singles in ihren Filialen haben will, soll sie am Eingang ein
„Wir müssen leider draußen bleiben“-Schild
aufstellen, auf dem eine einzelne Figur mit heruntergezogenen
Mundwinkeln rot durchgestrichen ist! Ich nehme mir fest vor: Wenn
ich beim nächsten Einkauf wieder mit Anti-Single-Musik
gefoltert werde, trinke ich einfach das Regal mit dem schottischen
Whiskey leer und bewerfe die anwesenden Pärchen mit
Taschentusch-Familienpackungen.
Zurück zuhause höre ich Musik, die meiner Stimmung
entspricht: Verdis Requiem. Ich bin jetzt ganz allein auf der Welt.
Das Telefon habe ich ausgesteckt, die Wohnungstürklingel auf
Stumm gestellt. Schon nachmittags beginnen die ersten Idioten, ihre
Knallkörper zu entzünden. Ich schließe
sämtliche Vorhänge und drehe die Musik lauter. Nach dem
zweiten Durchlauf lege ich der Abwechslung halber eine neue CD ein:
Mozarts Requiem.
Ich spreche Heike aufs Band, dass ich mich nur wegen ihrer CD noch
mal melde. Und dass dies mein letzter Anruf ist. Wenn mein Plan
aufgeht, ist das nicht mal gelogen: Heute Abend will ich
schließlich sämtliche Erinnerungen an Heike in Alkohol
ertränken. Ich starte meine Versuchsreihe über
kontrollierten Gehirnzellenabbau, indem ich die erste Flasche Wein
öffne. „Für die Wissenschaft!“, proste ich
mir zu.
Forschungsbericht, Teil 1, 22.30 Uhr
Bin schon ganz schön hacke, doch noch weit entfernt von dem
großen Durchbruch in der Gehirnzellenforschung. Obwohl ich so
flächendeckend wie möglich arbeite und von Glühwein
über Whiskey, Bier und Rum bis zu Absinth alles ausprobiere,
was meinem Unterfangen dienlich sein könnte, scheinen die mit
Erinnerungen an Heike verseuchten Gehirnzellen besonders
alkoholresistent zu sein. Noch immer taucht sie alle paar Sekunden
vor meinem geistigen Auge auf. Eine Wunderkerze in der Hand, die
mit ihren Augen um die Wette leuchtet, gibt sie mir einen langen
Kuss und sagt: „Neues Jahr, neues Glück! Lass es uns
noch mal versuchen!“
Ich bin noch nüchtern genug, um zu wissen, dass dies niemals
passieren wird. Missmutig zerreise ich ihre Postkarte mit dem
Spruch „Nehmen Sie die Menschen so wie sie sind. Es gibt
keine anderen“ in so kleine Teile, dass ich sie mir danach
als Konfetti über den Kopf werfen kann. Es herrscht sehr
ausgelassene Stimmung auf meiner Silvesterparty im sehr kleinen
Kreis!
Forschungsbericht, Teil 2, 23.45 Uhr
Immerhin kann ich einen kleinen Zwischenstand meiner Forschung
für die Nachwelt festhalten: Alkohol, in hoher Dosis
verabreicht, schärft den Gehörsinn. Kann die Nuancen der
Musik viel besser wahrnehmen. Kommt mir vor, als würde ich das
Zusammenspiel des Orchesters als Ganzes besser begreifen,
gleichzeitig aber auch jedes Instrument für sich kristallklar
heraushören. Hat zugegebenermaßen wenig bis gar nichts
mit meinem Vorhaben zu tun. Sehe dieses Ergebnis deshalb als ein
Nebenprodukt meiner Forschung an, so wie Teflonpfannen ein
Nebenprodukt der Raumfahrt sind.
Forschungsbericht, Teil 3, 0 Uhr
Scheint, als kehrt sich der gehörsinnschärfende Effekt
des Alkoholkonsums ab einer gewissen Überdosierung ins
Gegenteil: Die Raketenangriffe der Feuerwerksarmee und das Gejohle
der unverbesserlichen Optimisten, die denken, ein neues Jahr
wäre ein Grund zum Feiern, höre ich wie durch Watte.
Heike dagegen ist immer noch überall in meinem Kopf. Heike
Surround sozusagen. Aber immerhin müssen sich meine Gedanken
mittlerweile durch eine zähe Masse an die Oberfläche des
Bewusstseins kämpfen. Meine Augen spielen mir einen Streich.
Sehe doppelt. Als wäre die Wohnung nicht schon nüchtern
betrachtet zu groß für einen allein!
Forschungsbericht, Teil 4, 0 Uhr irgendwas
Wundere mich, warum mir unvermittelt folgender Gedanke durch den
Kopf schießt: Auf meiner Beerdigung soll ein mindestens
zwölfköpfiger Chor „The Warmth Of The Sun“
von den Beach Boys singen. Zu meiner eigenen Überraschung
schreie ich danach so laut, dass ich selbst vor Schreck
zusammenzucke: „Und zwar ein reiner
Männerchor!“
Forschungsbericht, Teil 5, keine Ahnung wie spät es ist
Sehe müde meinem Handy zu, wie es mit den leeren Flaschen
Walzer tanzt. Höre eine Stimme wie durch Watte. Kommt mir
irgendwie bekannt vor. Meine eigene Stimme vielleicht? Versuche,
zuzuhören, was ich sage, aber das ist zu schwierig, weil das
Wohnzimmer mittlerweile überflutet ist und ich wie in einem
Aquarium aus Alkohol schwimme. Plötzlich werde ich von einem
Strudel in die Tiefe gerissen. Lecker, das Meer schmeckt nach Bier!
Der Strudel spült mich zu meinem Medizinschrank. Ich sehe
bunte Kügelchen. Ich probiere eine. Mmh, die schmecken ja auch
nach Bier! Unendliche Dunkelheit saugt mich ein wie ein schwarzes
Loch.
Ich wache auf mit Rückenschmerzen. Kein Wunder, ich liege auf
dem harten PVC-Belag im Flur. Neben meinen Schuhen liegt eine
Schere. Die Schnürsenkel sind durchgeschnitten. Ich habe
offensichtlich alternative Techniken zum Ausziehen der Schuhe
ausprobiert. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte jemand
darin ein Feuerwerk angezündet. Jetzt erst bemerke ich die
vielen Tablettenschachteln, die um mich herum liegen. Langsam
dämmert mir, was ich getan habe. In Panik haste ich zum
Telefon, wobei ich auf dem Weg im Halbdelirium stolpere und mir den
Kopf am Tisch stoße.
„Ist da die Telefonseelsorge?“
„Ja“, sagt eine sanfte, ältere Frauenstimme.
„Ich habe versucht mich umzubringen.“ Ich meine nicht
den Unfall mit der Tischkante.
„Was haben Sie genau getan?“ Die Dame klingt
besorgt.
„Pillen geschluckt.“
„Was für Tabletten haben Sie eingenommen? Und wie
viele?“
„Weiß ich nicht“, gebe ich zu. „Ich war
betrunken.“
„Wie fühlen Sie sich?“
„Immer noch betrunken.“ Mit einem Blick auf den Tisch
füge ich hinzu: „Und ich habe Kopfschmerzen.“
„Bitte, konzentrieren Sie sich!“, fordert die Dame mit
eindringlicher Stimme. „Reißen Sie sich kurz zusammen
und schauen Sie nach, was Sie eingenommen haben!“
Ich wanke zurück in den Flur, schaue benebelt auf den Boden
und taste nach den Schachteln. „Hallo?“, fragt die
Telefonseelsorgerin nach einer Weile ungeduldig.
„Drei... Aspirin”, murmele ich. Meine Kopfschmerzen
werden immer schlimmer.
„Was?”
„Ich habe drei Aspirin geschluckt“, wiederhole ich.
„Ist das alles?“ Fast klingt sie enttäuscht.
„Und vier Hustenbonbons“, ergänze ich. „Aber
die liegen hier am Boden. Waren wohl nicht mein
Geschmack.“
„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“, fragt die Dame
gereizt.
„Wieso?“
„Man stirbt nicht von drei Aspirin“, klärt sie
mich auf.
„Ihr Tonfall missfällt mir“, sage ich.
„Wie bitte?“
„Ich dachte, Sie sollen die Leute vom Selbstmord
abhalten.“
„Ja... und?“, fragt die Dame enerviert.
„Sie klingen so... vorwurfsvoll.“
Sie schnauft heftig in den Hörer: „Ich glaube immer
noch, Sie erlauben sich einen Scherz mit mir.“
„Nein“, versichere ich. „Ich meine das todernst!
Oder habe ich das Konzept hier falsch verstanden? Ist es Ihre
Aufgabe, Tipps für den perfekten Selbstmord zu geben?“
Ich rede mich in Rage. „Dann tut es mir leid, dass ich so
unprofessionell bin, aber das war mein erster Versuch!“
„Wissen Sie was?“, herrscht mich die Dame an,
„Ich werde jetzt auflegen... Außer, sie haben ein
ernsthaftes Problem.“
Ich schildere mein Schicksal. Den Teil mit meinem verlorenen Job
halte ich kurz, denn ich weiß, dass sich das ändern
lässt. Dafür gerät die Beschreibung meiner
Gefühle für Heike umso ausführlicher. Irgendwann
höre ich die ältere Dame am anderen Ende der Leitung
schluchzen.
„Geht es ihnen gut?“, erkundige ich mich.
„Ja“, versichert sie. „Es ist nur... Das ist die
schönste Liebesgeschichte, die ich je gehört
habe.“
„Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen“, rate ich
meiner unbekannten Zuhörerin. „Das Leben muss
weitergehen.“
„Aber...“
„Ich muss jetzt aufhören“, sage ich, weil ich
dringend einen Schluck Wasser brauche. „Passen Sie gut auf
sich auf.“
Mir geht es nach dem Gespräch irgendwie besser und ich hoffe
für die nette Dame, dass auch sie sich kein Leid tut.
Ich sitze gerade in der Toilette und lese die Witzeseite im For Men
Magazine, als es an der Tür klopft. Das Klopfen wird lauter,
begleitet von energischen „Hallo“-Rufen. Was für
ein Irrer ist das? Die Zeugen Jehovas werden auch immer
aufdringlicher! Oder will sich der pensionierte Kettenraucher
Schneider aus dem vierten Stock wieder über die laute Musik
beschweren? Da fällt mir auf: Ich habe gar keine Musik an.
Mit einem lauten Krachen zersplittert meine Wohnungstür. Als
ich mit heruntergelassener Hose aus der Toilette schiele, sehe ich
drei Feuerwehrmänner und zwei Polizisten in meine Wohnung
stürmen, gefolgt von Richie und Ernst.
„Martin!“, ruft Richie, sprintet auf mich zu und umarmt
mich, als hätte ich gerade seine Steilpassvorlage in das
WM-Siegtor für Deutschland verwandelt.
„Was soll das alles?“, frage ich mit Blick auf meine
zerstörte Tür und die Beamten. Die versteckte Kamera
suche ich vergeblich. Darüber bin ich auf froh, denn erst
jetzt bemerke ich, dass ich meine Hose noch immer nicht hochgezogen
habe. Ich erinnere mich dunkel, dass ich die Klingel ausgeschaltet
habe.
„Deine Nachricht auf meiner Mailbox hat uns solche Angst
gemacht“, erklärt Ernst.
„Welche Nachricht?“
Ernst hält mir zur Antwort sein Handy ans Ohr. Ich höre
mich lallen: „Ohne Haie... äh Heike issalles sinnlos.
Nenn mir ein´ Grund, sichnich umsubringen, wenn ein´ die
große Liebe verlassn hat... Ernst? Hassumich gehört,
Ernst? Nenn mir ein´ Grund!... Hallo?... Aha, wussichsdoch!
S´gibt kein´ Grund!... Machs gut, mein Freund!“
Ich kann mich nicht erinnern, das gesagt zu haben. Ich kann mich
nicht einmal erinnern, Ernst angerufen zu haben.
„Wir hatten schon befürchtet, wir kämen zu
spät“, sagt Richie.
„In gewisser Weise “, beginne ich und schaue
wehmütig auf das Sperrholz, welches mal meine Wohnungstür
war, „tut ihr das auch.“
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© Michael Eichhammer (München, 2007)
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ISBN 3-492262-17-1, 224 S.
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